«Es fühlte sich an, als müsste ich sterben»

Vor über 10 Jahren hatte Ivy S. (37) die ersten Symptome. Es dauerte aber noch weitere vier Jahre, bis sie Gewissheit hatte: Sie ist an Multipler Sklerose erkrankt. BLICK hat mit ihr über ihr Leiden geredet.

 

 

Ein paar Minuten zu spät erscheint die Zürcherin Ivy S.* (37) zum Interview. Eine adrette junge Frau setzt sich mir gegenüber in den Schatten. Nicht im Rollstuhl und auch ohne sonstige erkennbare Beschwerden, die ich erwartet hätte.

«Typisch für MS», erklärt sie. «Die Multiple Sklerose ist die Krankheit der tausend Gesichter.» Nicht alle Menschen haben die gleichen Symptome und den gleichen Verlauf. Es gäbe Menschen, die haben nur einmal im Leben einen Schub und dann nie wieder und solche, bei denen Schübe häufiger auftreten und solche, die irgendwann im Rollstuhl sitzen.

Fatigue – immer müde

Bei den allermeisten Fällen beginnt die MS schubweise. Ein Schub ist ein plötzlicher, akuter neurologischer Funktionsausfall. Oft geht er mit Sensibilitätsstörungen, motorischen Schwierigkeiten oder Sehstörungen einher.

Auch bei Ivy S. begann die MS mit Störungen der Sehkraft. «Das war etwa 2009, ich hatte eine Sehnerventzünding, die man aber zu Beginn nicht erkannte – dafür hätte es erst eine MRI-Untersuchung gebraucht.» Diese hat sie dann auch erhalten, allerdings erst 2013.

«Ich hatte immer so ein Kribbeln im Kopf – als würde Strom durch mich hindurch fliessen und die Müdigkeit wurde immer schlimmer. Egal was ich tat. Manchmal war ich sogar zu fertig, um zu duschen.»

Die Hausärztin interpretierte die Symptome zuerst als eine Depression und verschrieb ihr Antidepressiva. «Erst als sie mich 2013 zum Neurologen schickte, nachdem die Symptome nicht abgeklungen waren, bekam ich die Diagnose Multiple Sklerose.» Eine niederschmetternde Nachricht: «Für mich fühlte es sich so an, als müsste ich sterben.»

Jeden Tag ein neuer Fall

Rund 15'000 Menschen sind in der Schweiz von MS betroffen. Die Schweizerische Multiple Sklerose Gesellschaft geht davon aus, dass jeden Tag einer Person die Diagnose MS gestellt wird. Wie einschneidend die Erkrankung sein kann, zeigt das Beispiel von Ivy S.

«Oft haben die Leute das Gefühl, dass ich nicht schwer krank bin, wenn sie mich sehen. Schliesslich sitze ich ja nicht im Rollstuhl», erzählt sie mit einem traurigen Lächeln.

Vor einigen Jahren hatte sie einen schweren Schub und konnte deswegen nicht mehr richtig gehen. Zusätzlich tat der Körper nicht mehr, was der Kopf befahl und ihr war ständig schwindlig. «Ich konnte kein Wort auf der Tastatur schreiben, weil die Hände nicht taten, was das Hirn ihnen befahl», erklärt Ivy S. Als Folge bekam sie immer stärkere Medikamente mit zum Teil schweren Nebenwirkungen und velor ihren Job.

Kampf um IV

«Mir wurde gekündigt, weil ich die von mir geforderte Leistung nicht mehr erbringen konnte. Die Leute im Geschäft hatten aber das Gefühl, ich würde blau machen. Das war extrem schwer für mich zu akzeptieren», erzählt die 37-Jährige, «ich war nämlich immer jemand, der gerne gearbeitet hat und voller Energie war.»

Die voranschreitende MS machte einen geregelten Arbeitstag unmöglich. «Inzwischen bin ich abhängig vom Sozialamt und kämpfe seit sechs Jahren darum, IV zu erhalten. Das Problem ist, dass sie meine Fatigue, meine immerwährende Müdigkeit, nicht anerkennen.»

Medikamente und Unterstützung

Der Alltag von Ivy S. ist von der MS geprägt. «Ich brauche mindestens acht, besser aber zehn bis zwölf Stunden Schlaf, nehme regelmässig starke Medikamente mit schweren Nebenwirkungen ein und habe für anstrengende Anlässe wie Konzerte einen Rollator», erzählt sie. «Natürlich hat die Diagnose mein Leben auf den Kopf gestellt» hält sie fest, «aber nicht nur zum Schlechten.»

Ivy S. engagiert sich in verschiedenen Gruppen von MS-Betroffenen. So ist sie Teil einer regionalen Gruppe im Zürcher Oberland, die regelmässig Ausflüge und Events für Menschen mit MS organisiert. «Da schauen wir dann auf alles, das man mit dem Rollstuhl hinkommt aber auch, dass jüngere Leute, die vielleicht noch sehr mobil sind, auf ihre Kosten kommen. So waren wir zum Beispiel auch schon mal in einem Escape-Room» erzählt sie.

«Und ganz uneigennützig bin ich da nicht», schmunzelt Ivy S. «Die älteren an MS Erkrankten geben immer super Tipps, wenn Unsicherheiten da sind. Von ihnen habe ich gelernt, dass es für alles eine Lösung gibt.»

*Name der Redaktion bekannt

Mit freundlicher Genehmigung zum Abdruck.
Das Original von Moritz Lüchinger erschien am 29. Mai 2020 bei «BLICK».