Durchbruch bei der tödlichen Krankheit PML

Fachartikel

Forschende der Universität Zürich und des Universitätsspitals zeigen erstmals neue mögliche Behandlungsmethoden für die seltene, meist tödlich verlaufende Gehirnerkrankung «progressive multifokale Leukoenzephalopathie» (PML, eine mögliche Nebenwirkung verschiedener MS-Medikamente) auf. FORTE sprach mit Dr. Roland Martin, Teil des erfolgreichen Forscherteams.

Herr Martin, Sie stehen kurz vor einem Durchbruch bezüglich der schweren Tysabri®-Nebenwirkung PML. Was ist PML genau?
PML steht für progressiv multifokale Leukoenzephalopathie. Hinter diesem langen und unaussprechlichen Begriff verbirgt sich eine Infektion des Gehirns mit einem Virus, dem sogenannten JCVirus (JC steht für John Cunningham; der Patient, aus dem das Virus erstmals isoliert wurde), das die Mehrheit der Weltbevölkerung zeitlebens in sich trägt, ohne Probleme zu haben. Wenn eine Person aber an einer angeborenen oder erworbenen Schwäche des Immunsystems leidet, kann es vorkommen, dass sich bestimmte Viren, z.B. Herpesviren oder eben das JC-Virus, vermehren und vom Immunsystem nicht mehr ausreichend kontrolliert werden. Bei Multipler Sklerose ist die PML als Nebenwirkung von Tysabri®, einem sehr wirksamen und normalerweise gut vertragenen Medikament, ein grosses Problem.

Können Sie die bisherigen Erfolge kurz zusammenfassen?
Da es bis jetzt keine wirksame Behandlung der PML gibt, haben wir vor etwa sechs Jahren begonnen, über eine Impfung gegen PML nachzudenken. An insgesamt drei Patienten (in Hamburg, Zürich und Mailand) mit Immundefekt und PML haben wir ein Impfschema getestet, bei dem man das Hüllprotein des JCVirus dreimal in die Haut injiziert und gleichzeitig eine Substanz zur Immunaktivierung auf die Haut aufträgt. Die Ergebnisse haben uns überrascht: Alle drei Patienten konnten das Virus rasch aus dem Gehirn eliminieren und eine JCVirus- spezifische Immunität entwickeln. Alle drei Patienten sind mehrere Jahre nach PML noch am Leben. Parallel zur Entwicklung der aktiven Impfung wurden von unserem Labor gemeinsam mit  der Biotechnologiefirma Neurimmune in Schlieren und Forschern der Universität Tübingen aus Immunzellen eines Tysabri®-behandelten MS-Patienten, der eine PML erlitten und überstanden hatte, menschliche Antikörper gegen das JCVirus isoliert. Diese Antikörper erscheinen ideal geeignet, um Patienten mit PML sofort zu behandeln.

Was ist das Bahnbrechende an den jüngsten Forschungsergebnissen?
Mit den oben genannten Ergebnissen, die in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert wurden, ist die Basis für die klinische Entwicklung der aktiven und passiven Impfung der PML geschaffen. Neben wichtigen und neuen wissenschaftlichen Befunden über das JCVirus besteht nun Aussicht, Patienten vor PML zu schützen oder bereits infizierte von PML zu heilen. Das betrifft MS-Patienten, die mit Tysabri® behandelt werden, aber auch eine Reihe anderer Behandlungen, etwa mit Gilenya® oder Tecfidera®, bei denen ebenfalls PML-Fälle auftraten.

Wie würden MS-Patienten von einem solchen Impfstoff bzw. einer solchen Behandlung profitieren?
Bei MS-Patienten, die Medikamente mit PML-Risiko einnehmen, könnte dieses Risiko durch prophylaktische Impfung deutlich reduziert oder sogar ganz eliminiert werden. Wenn es zu einer PML gekommen ist, wäre die Gabe der JCV-spezifischen Antikörper zur Eliminierung des Virus eine mögliche Therapie, die sofort eingesetzt werden könnte. Wenn die Akutmassnahmen nicht ausreichend ansprechen, wäre es darüber hinaus gut möglich, dann auch eine aktive, therapeutische Impfung vorzunehmen.

Mit welchen Nebenwirkungen muss bei einer Behandlung oder Impfung mit Antikörpern gerechnet werden?
Weder bei der aktiven Impfung noch bei der Therapie mit den JCV-spezifischen Antikörpern erwarten wir nennenswerte Nebenwirkungen, da die meisten Personen ja ohnehin mit dem JC-Virus infiziert sind. Bei den drei Personen, die wir bisher aktiv geimpft haben, sind keinerlei nennenswerte Impfnebenwirkungen aufgetreten. Formal muss die gute Verträglichkeit und Sicherheit aber in einer sogenannten Phase-I-Studie an Patienten gezeigt werden, bevor man dann die Wirksamkeit in einer klinischen Studie (Phase II) untersuchen würde.

Interview: Milena Brasi
Bild: Frank Brüderli