Die Rolle von Darmflora und Ernährung bei MS

Fachartikel

In einem Workshop am «MS State of the Art Symposium» wurden neue Entdeckungen zu den Wechselwirkungen zwischen den Mikroorganismen im Darm und dem Immunsystem bei MS präsentiert. Zudem wurde diskutiert, welchen Einfluss Ernährungsmassnahmen auf eine MS haben könnten.

Einige offene Fragen zu den möglichen Ursachen einer MS konnten in den letzten Jahren beantwortet werden. So ist heute bekannt, dass genetische Faktoren eine wichtige Rolle spielen. «Da aber bei eineiigen Zwillingen nicht immer beide an einer MS leiden, müssen auch noch andere Faktoren, zum Beispiel aus der Umwelt, von Bedeutung sein», sagte Prof. Dr. Anne-Katrin Pröbstel vom Universitätsspital Basel. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Umweltfaktoren für MS mitverantwortlich sind, ist die in den letzten Jahrzehnten steigende Zahl an MS-Betroffenen, sowohl weltweit als auch in der Schweiz. «Gene verändern sich nicht so rasch. Wohl aber die Ernährung und damit auch das Darm-Mikrobiom, also die Gesamtheit aller Mikroorganismen im Darm», erklärte sie. Experimente hätten gezeigt, dass Mäuse ohne Darmbakterien vor einer MS geschützt waren. «Darmbakterien müssen also einen wichtigen Einfluss auf unser Immunsystem haben», so Prof. Pröbstel.

Unterschiedliche Darm-Mikrobiome

Untersuchungen machten deutlich, dass sich das Darm-Mikrobiom von MS-Betroffenen und gesunden Kontrollpersonen unterscheidet. «Ein Bakterium, das dabei besonders hervorstach, war Akkermansia muciniphila. Bei unbehandelten MS-Betroffenen kam es viel häufiger vor als bei den Kontrollpersonen», erläuterte Prof. Pröbstel. Neuere Untersuchungen haben zudem ergeben, dass sich die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms abhängig von der Aktivität einer MS und der Erkrankungsdauer verändert. «Auch bei Personen mit schubförmiger MS und solchen mit einer voranschreitenden Erkrankung fanden sich Unterschiede im Mikrobiom», ergänzte sie.

Mikrobiom interagiert mit dem zentralen Nervensystem

Wie Prof. Pröbstel weiter erklärte, seien verschiedene Wege denkbar, wie das Darm-Mikrobiom das zentrale Nervensystem (ZNS) beeinflussen und so zu einer Entzündung führen könne. Eine Möglichkeit stellen Botenstoffe dar, deren Produktion durch das Mikrobiom angeregt wird und die via Blut ins ZNS gelangen. Es gibt auch Hinweise darauf, dass potenziell schädliche Bakterien aus dem Darm das Immunsystem derart verändern, dass sich eine MS entwickeln kann.

Das Wissen zur Bedeutung des Darm-Mikrobioms bei MS führte auch zu ersten neuen Therapieansätzen. So gab es einzelne erfolgreiche Versuche, eine MS durch eine Übertragung von ausgewählten Mikroorganismen aus dem Stuhl gesunder Personen zu behandeln.

Ernährung beeinflusst Darm-Mikrobiom

Im zweiten Teil des Workshops sprach Dr. Mireia Sospedra, Universitätsspital Zürich, über den Einfluss der Ernährung auf das Darm-Mikrobiom. Untersuchungen konnten zeigen, dass eine nahrungsfaserarme Ernährung dazu führt, dass sich bestimmte Bakterien – darunter auch Akkermansia muciniphila – stark vermehren, in die Darmschleimhaut eindringen und dort eine Entzündung auslösen. Bekannt ist auch, dass diese Entzündung im Darm auch die Funktion der Schutzbarriere des ZNS, die sogenannte Blut-Hirn-Schranke, beeinträchtigt. Diese Barriere schützt Gehirn und Rückenmark normalerweise vor dem Einwandern von Immunzellen, die an der für MS-typischen Entzündung beteiligt sind. Zudem ist eine von Akkermansia muciniphila gebildete Substanz auch an einem Prozess beteiligt, der schliesslich dazu führt, dass die ins ZNS einwandernden Immunzellen bestimmte körpereigene Strukturen fälschlicherweise als fremd einstufen und diese angreifen.

«Wenn eine ungesunde Ernährung die Prozesse einer MS ankurbeln kann, dann könnte man mit einer gesunden Ernährung vielleicht das Gegenteil erreichen», meinte Dr. Sospedra. «Es gibt bestimmte Vitamine, Antioxidantien und ungesättigte Fettsäuren, welche die Blut-Hirn-Schranke passieren und so möglicherweise einen direkten, günstigen Einfluss auf die Entzündung und die degenerativen Vorgänge im ZNS haben können. Zudem tragen sie zu einem vielfältigen und gesunden Darm-Mikrobiom bei und sie haben einen positiven Effekt auf das Immunsystem», erläuterte sie.

Mittlerweile hätten einige Studien zeigen können, dass Vitamin D, Biotin, Grüntee, Omega-3-Fettsäuren und Probiotika bei MS eine günstige Wirkung haben. Ebenso liegen Hinweise darauf vor, dass eine mediterrane Diät, Intervallfasten (mit einer Fastenphase von 14 bis 16 Stunden) und eine ketogene Diät eine MS positiv beeinflussen können. «Die Motivation zu einer gesunden Ernährung sollte daher ein wichtiger Aspekt für Menschen mit MS sein», schloss Dr. Sospedra.

«MS State of the Art Symposium»

Das «MS State of the Art Symposium» ist der bedeutendste Fachkongress zu Multipler Sklerose in der Schweiz und wird von der Schweiz. MS-Gesellschaft und ihrem Medizinisch-wissenschaftlichen Beirat organisiert. Dieses Jahr fand das Symposium am 29. Januar 2022 in virtueller Form statt.

» Weitere Artikel & Videos des State of the Art Symposiums 2022