Angehörige sind mitbetroffen
FachartikelDie Anfangszeit und der «Diagnoseschock»
Vieles ist darüber bekannt, wie ein Mensch auf die Diagnose einer chronischen Erkrankung reagiert. Das Spektrum reicht von der Leugnung und Ablehnung der Diagnose über das Aufbegehren dagegen bis hin zu einer resignativen Haltung, die nicht selten in eine Depression mündet. Die Verarbeitung der Erkrankung und der konstruktive Umgang mit den verfügbaren Ressourcen (sog. «Coping») hängt im grossen Masse von der psychosozialen Unterstützung ab, auf welche die Betroffenen insbesondere zu Beginn der Erkrankung zurückgreifen können. Gerade in dieser Phase sind die Angehörigen und nahestehende Menschen besonders gefordert.
Angehörige nehmen in dieser Lebensphase oft eine unterstützende Rolle ein, indem sie sich gemeinsam mit den Betroffenen informieren und sie durch viele medizinische Untersuchungen und sozialrechtliche Institutionen begleiten. Zugleich bieten sie Entlastung, indem sie in dieser aussergewöhnlichen Situation für die Betroffenen ein Gesprächspartner sind, ihnen Zuversicht demonstrieren, ihnen ihre Nähe und Verbindlichkeit versichern und dabei das Umfeld so gestalten, dass potenzielle Irritationen der Betroffenen ferngehalten werden. Während also Angehörige eine besonders starke Stütze, aufmerksame Zuhörer und sensible Partner zugleich sein müssen, stellen sie ihre eigenen Belange weitgehend zurück. Ihnen bleibt kaum Raum zur Verarbeitung der eigenen, durch die Diagnose über sie einfallenden Veränderungen der Lebensumstände.
Nach dem «Diagnoseschock» – die Dinge des Lebens
Ist der erste Schock erst einmal überwunden, gilt es, gemeinsam die Dinge des Lebens zu bewältigen. Wie funktioniert das mit den Medikamenten, was wird mit der Berufstätigkeit, soll man den Haushalt und die Zuständigkeiten umstellen, die Wohnung gar umbauen, wird es finanzielle Einbussen geben, wie soll man es den Kindern erklären, wie dem Arbeitgeber, den Freunden, den Nachbarn, und schliesslich: Welche Anlaufstellen gibt es? Auch nachdem viele Einzelheiten geklärt sind, gilt die unausgesprochene Devise, dass Angehörige den Betroffenen weiterhin die bestmögliche Unterstützung bieten. Dies kommt auch dem Verantwortungs- und Pflichtgefühl der Angehörigen entgegen. Sogar das professionelle Versorgungssystem zählt indirekt auf die Angehörigen und plötzlich finden sie sich in der Rolle des Vermittlers bei ärztlichen und sozialrechtlichen Problemen, aber auch als Hilfsperson bei pflegerischen Tätigkeiten.
Die Folgen körperlicher Einschränkungen
Die MS kann zu körperlichen Einschränkungen führen. Daraus entstehen veränderte Rollen und Abhängigkeiten. Tatsächlich ist es schwierig, mit einer Lebenssituation umzugehen, die beispielsweise einen ehemals alleinverdienenden Familienvater nun in die Rolle eines hilfsbedürftigen Teilzeitangestellten drängt und damit der Ehefrau neben der Rolle der Erzieherin zugleich pflegerische und existenzsichernde Funktionen aufbürdet. Diese Rollenumstellung kann selbstverständlich beide Geschlechter betreffen. Sie führt bei Angehörigen langfristig zu Überlastungssituationen, Grund dafür ist nicht selten die dauerhafte Unterordnung eigener Bedürfnisse bei gleichzeitiger maximaler Ausschöpfung körperlicher und emotionaler Ressourcen. So erstaunt es nicht, dass Angehörige und Nahestehende von chronisch kranken Menschen infolge der zunehmenden Pflegelast (sog. «Caregiver Burden») gegenüber der Durchschnittsbevölkerung häufiger sowohl körperliche als auch psychische Erkrankungen entwickeln und einen höheren Konsum von Schmerzmitteln und Psychopharmaka aufweisen.
Auswirkungen auf die Partnerschaft
Mit der Krankheit können Veränderungen des Körpers einhergehen – etwa eine durch die Spastik bedingte veränderte Körperhaltung, Blasenstörungen oder Hautprobleme. Diese Änderungen entsprechen nicht dem Selbstbild der Betroffenen und stellen ihre Attraktivität in Frage. Häufig bleibt das Sexualleben in einer Beziehung davon nicht unberührt, da auf beiden Seiten Unsicherheiten entstehen. Wenn der Partner die Pflege übernimmt, kann das Sexualleben erst recht beeinträchtigt werden, da es schwierig ist, den Betroffenen zugleich als zu Pflegenden und als Sexualpartner anzusehen.
Eine eingeschränkte Mobilität führt nicht selten zu einer Abnahme sozialer Aktivitäten, wovon wiederum auch die Angehörigen betroffen sind. Jedoch wagen sie es aus Rücksicht kaum, die eigenen Bedürfnisse nach Sozialkontakten und Aktivitäten zu äussern. Sie nehmen stattdessen eine zunehmende Einschränkung der eigenen Sozialkontakte in Kauf. Unzufriedenheit und Aggressionstendenzen können die Folge einer solchen Negativspirale sein.
Geistig-emotionale Veränderungen
Eine chronische Erkrankung kann zu einer Trauer um den Verlust des früheren Lebensstils führen. Gedanken des Abschieds von bestimmten Aktivitäten betreffen auch die Angehörigen, werden aber kaum thematisiert, da dies nach dem eigenen Selbstverständnis einer Entlastung eher im Wege stünde. Sie schweigen darüber und finden sich in einer gewissen Sprachlosigkeit, während der Druck weiter wächst. Darüber hinaus werden sie mit den Stimmungstiefs oder depressiven Episoden der Betroffenen konfrontiert, was weiter zu einer Vereinseitigung der Kommunikation führt. Depressive Verstimmungen haben oft sowohl mit den gesamthaft veränderten Lebensbedingungen der Betroffenen zu tun als auch mit den Folgen von MS-bedingten Hirnveränderungen.
Fazit
Chronisch krank zu sein bedeutet, sich ständig auf mögliche Veränderungen der Lebensumstände einzustellen. Dies verlangt sowohl von den Betroffenen selbst als auch von den Angehörigen ein hohes Mass an Flexibilität, Energie und nicht zuletzt an Zuversicht. Es gilt, einen neuen, gemeinsamen Weg durch das Leben zu finden. Gedanken über Rollenverteilung, Veränderungen der Beziehung aber auch Verantwortungsübernahme und Abgrenzung von Seiten der Angehörigen sollten hierbei nicht unterdrückt, sondern möglichst offen angesprochen werden. Hier hat sich gezeigt, dass eine neutrale Person, sei es der Arzt oder die Pflegefachfrau, der Psychologe oder die Sozialarbeiterin, durch ihren unvoreingenommenen Blick auf die Tatsachen bei der Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe von grosser Hilfe sein kann.
Unterstützung durch die MS-Gesellschaft
Die MS-Gesellschaft bietet Angehörigen und Nahestehenden verschiedene Kontakt- und Unterstützungsangebote:
- Beratung
Unterstützung und Beratung für Betroffene und Angehörige von Fachpersonen des interdisziplinären Teams zu sozialen, pflegerischen, psychologischen und medizinischen Fragestellungen. - Gruppenaufenthalte
Pflegende Angehörige können während 2 bis 3 Wochen eine Verschnaufpause nehmen, während die MS-Betroffenen im Gruppenaufenthalt abwechslungsreiche Tage erleben. - Kindercamps
Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem MS-betroffenen Elternteil können zusammen Spass haben und ihre Erlebnisse unter Gleichgesinnten austauschen. - Ferienwochen für MS-Betroffene und Partner
Zusammen mit anderen Paaren Ferien verbringen, Zeit haben und sich austauschen. - Regionalgruppen
Angehörige finden bei regelmässigen Treffen eine Anlaufstelle mit der Möglichkeit, zusammen mit Betroffenen Geselliges und Kulturelles zu geniessen. - Selbsthilfegruppen
Erfahrungen und Informationen werden regelmässig im kleinen Rahmen ausgetauscht. Es gibt auch Selbsthilfegruppen speziell für Angehörige. - Veranstaltungen
Das vielfältige, schweizweite Angebot an Informationsveranstaltungen, Seminaren, Zyklen und Schnupperkursen steht auch Angehörigen offen.
Angehörigen ist nicht immer klar, welche Massnahmen konkret Entlastung bringen könnten. In solchen Fällen kann es hilfreich sein, gemeinsam mit den Beraterinnen und Beratern der MS-Gesellschaft herauszufinden, welche Unterstützung es braucht, sei es direkt durch die MS-Gesellschaft oder durch andere Dienste.
MS-Infoline: 0844 674 636 (Montag–Freitag, 9.00–13.00 Uhr)
Text: Prof. Dr. Pasquale Calabrese, Berater für Psychotherapie, Neuropsychologie und Verhaltensneurologie bei der Schweiz. MS-Gesellschaft; Susanne Kägi, Pflegefachfrau HF, Beraterin MS-Gesellschaft