Gesichter der MS 2023: Vanessa Rambone Coralluzzo

Gesichter der MS
Foto von Vanessa Rambone Coralluzzo

Ich heisse Vanessa und bin 36 Jahre alt. Ich lebe mit meinen zwei Kindern (7- und 5-jährig) und meinem Mann, der schon 17 Jahre an meiner Seite ist, im Kanton Schaffhausen. Aktuell bin ich im gekündigten Verhältnis, freue mich aber auf meinen neuen Job als Sachbearbeiterin bei einer Spitexorganisation, die pflegende Angehörige unterstützt.

In welchem Alter bekamst du die Diagnose MS? Geschah das sensibel oder «optimierungsbedürftig»?
Die Diagnose «Verdacht auf MS» bekam ich 2017, also mit 30 Jahren. Ich hatte Gefühlsstörungen in meinem linken Bein. Da mein Vater selbst an MS erkrankt ist, hat mein Hausarzt offen mit mir über dieses Thema gesprochen. Bereits früh hiess es, es muss von einer MS ausgegangen werden. Die «offiziellen Worte» hörte ich erst 2020 von meiner damaligen Neurologin.

Was war dein allererster Gedanke nach der Diagnose MS? Was hast du danach getan?
Mein Mann war bei der Besprechung 2017 dabei, trotz des Verdachts war es doch ein Schock. Einerseits war ich sehr traurig aber zugleich auch froh, dass es nichts Schlimmeres war. Mein Gedanke war immer, mit MS kann ich leben, mit einem Tumor eventuell nicht. Nach der ersten Verarbeitung der wahrscheinlichen Diagnose fuhr ich zu meiner Mutter, die auf unsere Kinder aufpasste und fiel ihr weinend in die Arme. Da meine damals 2,5-jährige Tochter auf mich wartete, musste ich mich schnell wieder zusammenreissen. Danach ging ich zu meinem Vater, der sich im Bett ausruhte. Wir sahen uns an und mein Vater meinte, wenn ich es dir wegnehmen könnte, würde ich es sofort machen.

Vom Zeitpunkt der Diagnose bis heute: Wie hat sich deine Einstellung zur MS verändert?
Ich sehe vieles aus einer anderen Perspektive. Ich versuche auch, die Momente bewusster zu geniessen. Was ich aber noch lernen muss, ist mehr auf mich selbst zu hören und auch mal an mich zu denken.

Welche Symptome machen dir heute am meisten zu schaffen? Wie beeinflusst die MS deine Lebensqualität?
Aktuell habe ich wenige Einschränkungen, aber die Fatigue, die unerwartet auftreten kann, ist das schlimmste Symptom. Ab und zu habe ich schwache und schwere Beine, die, je nachdem was ich unternehme, ein Hindernis darstellen können.

Stichwort Therapien: Welche machst du, und wie kommst du damit zurecht?
Seit Mai 2022 mache ich die Immuntherapie mit Ocrevus. Vorher hatte ich noch keine MS-typische Therapie, ausser der wöchentlichen Physiotherapie. Die Physio ist ein wichtiger Bestandteil geworden. Nicht nur, dass es mir körperlich gut tut, meine Therapeutin tut mir auch psychisch gut. Sie findet immer die richtigen Worte. Aktuell geht es mir mit der Ocrevus-Therapie sehr gut. Mein Neurologe ist auch zufrieden. Da ich aber erst zwei Zyklen hinter mir habe, kann ich leider noch nicht viel dazu berichten.  

Gab es Entscheidungen, die du dich vor der Diagnose nie getraut hättest?
Nein.

Gab es Menschen, die sich nach der Diagnose von dir abgewendet haben? Was würdest du ihnen heute gerne sagen?
Ja und Nein, bis jetzt wissen noch nicht viele von meiner Krankheit. Ob sich jemand wegen genau dieser Krankheit abgewendet hat oder nicht, kann ich nicht sagen. Aber es gibt wenige Personen, mit denen ich keinen Kontakt mehr habe. Auf die Frage, was ich ihnen gerne sagen würde? Nichts, da ich nicht in die Vergangenheit schauen möchte.

Gibt es Menschen, die dich besonders unterstützen? Von denen du das vielleicht gar nie erwartet hättest?
Ja, in erster Linie meine Familie (Eltern, Geschwister) und meine Tante, die ebenfalls an MS erkrankt ist. Sie geben mir so viel. Aber auch mein Mann, er ist mir eine sehr grosse Stütze. Obwohl er durch die Krankheit meines Vaters sieht, wie es sein kann, einen pflegebedürftigen Angehörigen zu Hause zu haben, steht er stets hinter mir. Ich habe gelernt, keine Erwartungen zu haben, da man enttäuscht werden kann. Aber meine beste Freundin wie auch meine Schwägerin sind immer für mich da. Natürlich noch einige gute Freunde und ein Teil der Familie.

Wenn du in den Spiegel schaust: Was siehst du?
Aktuell eine Person, die gelernt hat, dass die Krankheit nicht mit mir lebt, sondern ICH mit der Krankheit. Ich habe jetzt die Krankheit akzeptiert und sehe sie als Teil von meinem Leben.

Gab es schon Situationen, in denen du dich für deine Krankheit rechtfertigen musstest?
Bis jetzt noch nicht, weil ich die Krankheit noch nicht offen kommuniziert habe. Aber ich habe immer wieder komische Blicke gesehen, als ich mich hinsetzen musste, zum Beispiel bei einem Fussballspiel.

Was ist dein grösster Verlust durch die MS?
Dass ich einige Dinge mit den Kindern nicht mehr so gut machen kann.

Hat dir die MS im Gegenzug etwas gegeben, was du vorher nicht hattest oder kanntest?
Ich sehe gewisse Situationen mit anderen Augen. Der Schwerpunkt eines Problems ist bei mir jetzt ein anderer.

Gibt es eine Erwartungshaltung an MS-Betroffene, immer positiv und optimistisch zu sein? Wie gehst du damit um?
Ich denke, es ist unmöglich immer positiv zu denken. Es gibt einfach Tage, die einen runterziehen können. Wichtig ist, wieder aufzustehen und im Jetzt zu leben. Was war, kann niemand mehr ändern, was heute ist und morgen vielleicht sein wird, aber schon. Ich meine, der  Wille ist bei jeder Krankheit sehr wichtig. Klar, der Wille kann die Krankheit nicht heilen, aber er gibt mir ein besseres Gefühl. Darum wünsche ich mir und allen anderen Betroffenen, dass sie den Willen zu Leben nie verlieren.  

Hat die MS Konsequenzen für deine Partnerschaft/Beziehungen, emotional und körperlich?
Nein, aber ich hoffe, dass ich den Part meines Mannes nie unterschätze. Durch meine Eltern kann ich nun beide Parteien ein wenig besser verstehen. Darum hoffe ich, dass ich dies beibehalten kann und meinen Mann in gewissen Situationen, die vielleicht auftreten können, verstehen kann. Umgekehrt ist dies genauso wichtig. Es ist wichtig darüber zu sprechen, wie man sich aktuell fühlt, das A und O einer funktionierenden Beziehung. Das kleine Wort Wertschätzung ist für mich ein sehr wichtiger Punkt.

Die MS und deine Arbeit: Geht das gut? Oder gibt es Probleme?
Aktuell habe ich keine Einschränkungen und kann meine Arbeit wie gewohnt ausüben.

Gibt es so etwas wie eine goldene Regel fürs «MS-Outing»? Wie gehst du damit um?
Man muss dazu bereit sein und die Krankheit akzeptiert haben. Ich wollte bis jetzt, dass es nur die Familie und das engste Umfeld wissen, da ich mich einfach noch nicht bereit dafür gefühlt habe. Heute bin ich soweit und möchte es einfach nur noch loswerden.  

Spielen Ernährung und komplementäre Verfahren eine Rolle in deinem Leben mit MS?
Die Ernährung habe ich nicht geändert, habe mich aber auch zu wenig damit befasst. Einmal im Jahr gehe ich in die Akupunktur für 10 Sitzungen.

Was ist für dich tabu bei deiner MS? Gibt es Dinge, über die du nicht einmal mit deinen engsten Vertrauten sprechen möchtest?
Nein, diesbezüglich gibt es für mich keine Tabus. Ich weiss, dass ich zum Beispiel mit meiner besten Freundin über alles sprechen kann.  

In der direkten Konfrontation mit Vorurteilen oder Irrtümern, wie reagierst du?
Kommt auf die Fragestellung an. Wenn ich merke, dass ein wirkliches Interesse besteht, erkläre ich es auch sehr gerne. Ich freue mich über jede Person, die mehr über diese Krankheit weiss oder wissen möchte.

Hattest du im Zusammenhang mit MS lustige oder traurige Erlebnisse?
Leider nur traurige. Ich sehe den täglichen Kampf, den mein Vater nun seit über 25 Jahren hat. Aber ich habe mich bei der Regionalgruppe gemeldet und ich glaube, es werden schöne und lustige Momente in der Zukunft erstehen.

Wie entspannst du dich? Welchen Rat hast du für andere MS-Betroffene?
Wenn ich mal mit meiner Freundin in den Ausgang gehe. Mit zwei kleinen Kindern ist es nicht immer einfach, zur Ruhe zu kommen. Aber ein gemütlicher Filmabend mit meinem Mann, oder wenn wir Besuch von Freunden und Familien haben, ist auch schon viel wert. Jeder hat eine andere Entspannungsart, die man für sich entdecken muss.

Hast du ein Hobby? Etwas, was dich total begeistert?
Aktuell habe ich nicht wirklich ein Hobby. Aber ich organisiere sehr gerne Anlässe. Sobald also ein Fest ansteht, kümmere ich mich mit Herzblut darum.

Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft?
Ich bin seit über 15 Jahren Mitglied und nun, da ich selber erkrankt bin, habe ich vom Angebot profitieren können. Die Erfahrung war sehr gut. Ich hatte Bedenken beim Jobwechsel. Für mich war klar, dass ich offen mit der Krankheit umgehen möchte. Die MS-Gesellschaft hat mich sehr unterstützt und alle Fragen über die Sozialleistungen sehr genau erklärt. Ich bin sehr froh und dankbar, gibt es die MS-Gesellschaft.


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