Komplementärmedizin und MS: Zugang zu Studienergebnissen

Fachartikel

Welche komplementärmedizinischen Ansätze können bei MS helfen? Hilft eine Ernährungsumstellung? Kann ich Akupunktur machen oder schadet mir das? Zu diesen und weiteren Fragen von MS-Betroffenen ermöglicht ein Online-Tool einen systematischen Zugang zu bisherigen Studien zu komplementärmedizinischen Methoden.

Eine schweizweite Studie des Schweizer MS Registers ergab, dass nahezu die Hälfte aller Menschen mit MS im Verlauf ihrer Erkrankung komplementärmedizinische Verfahren nutzt. Manche dieser Verfahren können konventionelle Behandlungsformen ergänzen und zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen. Vor diesem Hintergrund hat ein Team am Institut für komplementäre und integrative Medizin des Universitätsspitals Zürich in Zusammenarbeit mit dem Schweizer MS Register, MS-Betroffenen, Forschenden und Gesundheitsfachkräften ein wissenschaftliches Projekt durchgeführt.

Das Ergebnis ist eine interaktive «Evidence and Gap Map», ein innovatives Online-Tool, welches eine Übersicht über bisherige Studien zur Komplementärmedizin bei MS bietet und Forschungslücken aufzeigt. Dieses von der Schweiz. MS-Gesellschaft geförderte Projekt verfolgte drei zentrale Ziele:

  1. Identifizierung der Prioritäten von Menschen mit MS in der Schweiz: Eine im Jahr 2022 durchgeführte Umfrage des Schweizer MS Registers zeigte, dass 48% der Menschen mit MS in den sechs Monaten, die der Befragung vorausgegangen waren, komplementäre Therapien zur Verbesserung der Lebensqualität und Linderung von Symptomen wie Muskelschwäche, Gleichgewichtsproblemen und Müdigkeit genutzt hatten. Manuelle Therapien und natürliche Substanzen wurden als besonders wirksam eingestuft. Die unterschiedlichen Erwartungen zu Wirksamkeit und Sicherheit deuten auf einen Wissensbedarf hin, der durch weitere Forschung adressiert werden könnte.
     
  2. Entwicklung eines «Core Outcome Set»: Ein sogenanntes «Core Outcome Set» mit 30 für Menschen mit MS relevanten Ergebnisparametern wurde anschliessend vom Institut für komplementäre und integrative Medizin entwickelt, um die Wirksamkeit komplementärer Therapien besser zu bewerten. Die 30 Ergebnisparameter wurden in zwei Schritten erarbeitet. Zunächst erfolgte eine systematische Übersichtsarbeit der bestehenden Forschung.

    Anschliessend wurden in einer Umfrage und einem Konsensfindungsprozess 770 MS-Betroffene, Forschende und Gesundheitsfachkräfte aus der Schweiz und weiteren Ländern einbezogen. Das «Core Outcome Set» umfasst Symptome wie Fatigue, Schlafstörungen, Angst, Schmerzen, Mobilitätsprobleme sowie Lebensqualität oder Sicherheit.
     
  3. Entwicklung einer interaktiven «Evidence and Gap Map»: Basierend auf den beiden vorangegangenen Schritten wurde die interaktive «Evidence and Gap Map» erstellt. Diese Map verlinkt zu den wissenschaftlichen Zusammenfassungen von mehr als 80 Studien, welche die Effekte komplementärer Therapien auf MS-spezifische Symptome untersucht haben. Nutzende können die online frei zugängliche «Evidence and Gap Map» nach Kriterien wie Hauptergebnis, Therapieart, Geschlecht oder Publikationsdatum filtern.

Die interaktive Map zeigt nicht nur die vorhandenen Studien auf, sondern macht auch die Lücken sichtbar, wo Forschung notwendig ist. Die meisten Studien stammen aus Europa. Therapien, die bisher weniger erforscht wurden, zum Beispiel spezielle Diäten, bieten Ansatzpunkte für zukünftige Forschung.

Schlüssel-Ergebnisse der «Evidence and Gap Map»

Die Analyse der «Evidence and Gap Map» zeigt, dass pflanzliche Präparate und sogenannte Nahrungsergänzungsmittel mit einem Anteil von 69% zu den am häufigsten untersuchten Therapien zählen. Dazu gehören etwa Cannabis, Ginseng und Omega-3-Fettsäuren. Weitere häufig untersuchte Therapien waren manuelle Therapien wie Massage und Verfahren der «Mind Body Medicine» wie Yoga oder Meditation.

Hinsichtlich der Studienqualität zeigt sich, dass die meisten randomisierten (zufällige Zuteilung der Teilnehmenden zu den Vergleichsgruppen) Studien mit 100 bis 200 Teilnehmenden relativ klein und regional begrenzt angelegt waren, was die Übertragbarkeit der Ergebnisse einschränkt.

Mehrwert für Betroffene und Zukunftsperspektiven

Die «Evidence and Gap Map» bietet Menschen mit MS einen klaren Überblick über die bisher durchgeführten Studien. Sie liefert damit auch eine Grundlage, um das Gespräch mit Ärztinnen und Ärzten auf Augenhöhe zu führen und basierend auf den systematisch zugänglichen Studienergebnissen informierte Entscheidungen zu treffen – im Sinne einer umfassenden Behandlung der Krankheit.

Darüber hinaus leistet die «Evidence and Gap Map» einen wichtigen Beitrag zur zukünftigen Forschung. Sie hilft, Forschungslücken zu identifizieren und neue Studien zu planen, welche die Bedürfnisse von Menschen mit MS berücksichtigen. Künftig könnte Künstliche Intelligenz genutzt werden, um die Map laufend zu aktualisieren und sicherzustellen, dass Menschen mit MS und Fachpersonen stets Zugang zu neuesten Erkenntnissen haben.

 

Text: Claudia Canella (M.A.), Jesús López-Alcalde (MPH) und Prof. Dr. med. Claudia Witt, Universitätsspital Zürich

 

Hier geht es zur «Evidence and Gap Map»