Die Ursachen von Multipler Sklerose verstehen: Was wir wissen – und warum wir vieles nicht wissen

Das Schweizer MS Register

Die Multiple Sklerose hat keinen einzelnen Auslöser, sondern verschiedene Ursachen, entwickelt sich über Jahre und verläuft bei jeder Person etwas anders. Die Erforschung der Ursachen ist – trotz einiger Fortschritte in den letzten Jahren – immer noch voll im Gange. In diesem Artikel beschreiben wir, warum die Suche nach den Ursachen der MS so komplex ist, welche Risikofaktoren in der Wissenschaft bereits gut etabliert sind, und welche möglichen Auswirkungen die Unsicherheit über Ursachen auf die MS-Betroffenen hat.

Die Ursachen der MS – ein grosses Puzzle

Die MS entsteht nicht durch eine einzige Ursache. Stattdessen spielen verschiedene Einflüsse zusammen – oft über viele Jahre hinweg. Dazu gehören zum Beispiel erbliche Veranlagung, bestimmte Infektionen, Umweltfaktoren, Lebensgewohnheiten und anderes. Jede Person mit MS hat ihre eigene «Mischung» an Risikofaktoren. Bei manchen könnte eine Infektion in jungen Jahren entscheidend gewesen sein, bei anderen eher die genetische Veranlagung. Man sollte MS also nicht als Folge eines einzelnen Auslösers sehen, sondern als Zusammenspiel mehrerer Bausteine.

Der Epidemiologe Kenneth Rothman hat das «Kuchenmodell» entwickelt [1]: Jeder Kuchen steht für eine individuelle Kombination von Faktoren, die zusammen zur Krankheit führen – die Gesamtheit dieser Faktoren ist also «ausreichend», um MS auszulösen. Jeder Kuchen besteht aus mehreren «Stücken» (Einzelursachen). Innerhalb des Kuchens gibt es jedoch Stücke, die wichtiger sind als andere. Sie gelten als unbedingt «notwendig», damit eine MS entsteht. In den letzten Jahren hat sich insbesondere die Infektion mit dem Epstein Barr Virus (EBV) als ein solch «notwendiger» Faktor herausgestellt. Ohne eine EBV-Infektion kommt es nicht zu einer MS. EBV-Infektionen kommen jedoch bei fast jedem Menschen vor, deshalb braucht es die Kombination mit anderen Kuchenstücken, damit die Krankheit entsteht. Das bedeutet: jede Person, die an MS leidet, hat sich zuvor einmal mit dem EB-Virus infiziert. Jedoch bekommt nicht jede Person, die irgendwann einmal eine EBV-Infektion hatte, MS.

Die drei Kuchendiagramme stellen beispielhaft drei Personengruppen dar, bei denen eine unterschiedliche Kombination aus Risikofaktoren zur MS führte.

Manche Risikofaktoren (z. B. EB-Virus und genetische Veranlagung) tauchen bei fast allen Gruppen von Personen mit MS auf, andere (wie Rauchen) nur in einigen. Es ist wichtig zu betonen, dass kein einzelner Risikofaktor allein ausreicht – erst die Kombination führt zur Krankheit. Falls dieses Kuchenmodell für MS wirklich zutrifft, so lässt sich jedoch auch eine positive Botschaft daraus ableiten: gewisse Kuchenstücke sind Risikofaktoren, die wir durch unseren Lebensstil beeinflussen können (mehr dazu unten).

Warum es für die Forschung so schwierig ist, komplexe Risikofaktoren zu identifizieren

Leider gibt es keine hundertprozentige Gewissheit darüber, was ein Risikofaktor ist, weil man Ursache und Wirkung generell nicht direkt beobachten kann, auch nicht bei der MS. Daher nimmt man eine Reihe von Kriterien, auch als Bradford-Hill-Kriterien bekannt, zu Hilfe [2]. In allen Bereichen der Gesundheit und Medizin, zum Beispiel im MS- und Krebsbereich, prüft so die Forschungsgemeinschaft, ob ein Zusammenhang wirklich ursächlich ist. Bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit (siehe weiter unten), ob ein bestimmter Risikofaktor zur Entstehung von MS beiträgt, werden zum Beispiel folgende Fragestellungen berücksichtigt:

  • Wie stark ist der statistische Zusammenhang zwischen einem Risikofaktor und MS?
  • Wurde ein solcher Zusammenhang mehrfach in verschiedenen Studien bestätigt?
  • War der Risikofaktor genügend lange vor Ausbruch der MS vorhanden?
  • Besteht eine Dosis-Wirkung, also mehr vom Risikofaktor gleich höheres Risiko?
  • Sind die Ergebnisse in Anbetracht des heutigen Wissens biologisch plausibel?

Mit anderen Worten - es reicht nicht, wenn eine Erklärung «plausibel» erscheint. Es müssen mehrere Kriterien erfüllt sein, damit ein beobachteter oder vermuteter Zusammenhang zwischen Risikofaktor und MS-Erkrankung wissenschaftlich wirklich standhält. Epidemiologische Studien spielen bei der Untersuchung von Ursachen einer Erkrankung eine zentrale Rolle.

Zentrale Merkmale epidemiologischer Studien sind, dass sie oft mit Personen aus der Allgemeinbevölkerung (Zufallsstichprobe) durchgeführt werden. Dabei weist ein Anteil der Personen einen Risikofaktor, z.B. Rauchen, auf oder nicht, und ein Anteil Personen entwickelt eine MS oder eben nicht. Dadurch kann man durch die Gegenüberstellung  dieser Gruppen Vergleiche durchführen und bestimmen, ob Personen mit einem bestimmten Risikofaktor eher eine MS entwickeln als Personen ohne diesen Risikofaktor [3]. Darüber hinaus gibt es viele Details zum Studienaufbau und zur Studienanalyse, die man sorgfältig beachten muss, damit diese Vergleiche nicht durch Störfaktoren verfälscht werden.

Was man heute über bestimmte Risikofaktoren weiss

Infektion mit EBV
Seit ein paar Jahren gilt der Zusammenhang zwischen einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) und der MS als hoch wahrscheinlich[4] (siehe dazu auch diesen Beitrag). Die Schwierigkeit für die Untersuchung dieses Zusammenhangs bestand lange darin, dass zwar fast alle Personen mit MS eine EBV-Infektion hatten, dies aber auch für einen Grossteil der Bevölkerung gilt. Eine hochwertige Studie aus den USA konnte den Zusammenhang einer früheren EBV-Infektion und MS überzeugend nachweisen [5]. Man nimmt an, dass EBV das Immunsystem «fehlprogrammieren» kann und so die Entstehung einer MS begünstigt. Bezogen auf das Kuchenmodell gilt eine EBV somit als ein «notwendiger» Risikofaktor.

Eine EBV-Infektion reicht alleine jedoch nicht aus. Über die letzten Jahrzehnte wurden verschiedene weitere Risikofaktoren identifiziert, die im Zusammenspiel mit EBV den «Kuchen» vervollständigen und eine MS auslösen können.

Genetische Veranlagung
Die MS tritt in manchen Familien gehäuft auf und bestimmte Gene für das Immunsystem erhöhen das Risiko für MS [6]. Allerdings reicht die genetische Veranlagung nach heutigem Wissensstand nicht aus. Verschiedene Studien mit eineiigen Zwillingen (genetisch identisch) belegen, dass nur in jedem vierten Fall beide Zwillinge eine MS entwickeln [7]. Die Gene sind also nicht alleine entscheidend. Dennoch sind sie ein wichtiger Faktor in der Entstehung der MS und können den Einfluss anderer Risikofaktoren verstärken, dazu weiter unten mehr.

Rauchen
Personen, die rauchen, haben ein erhöhtes Risiko für eine MS. Zudem kann Rauchen den Krankheitsfortschritt beschleunigen. Verschiedene epidemiologische Studien zeigen ausserdem, dass das Risiko an MS zu erkranken steigt, je mehr geraucht wird [8]. Man vermutet, dass Rauchen einen solchen Einfluss hat, da es Entzündungen im Körper fördert, was zentral in der Entstehung der MS und anderer chronischer Krankheiten ist.

Hormone
Zwei Drittel der Personen mit MS sind Frauen, dies zeigt auch das Schweizer MS Register [9]. Hormonelle Unterschiede bei Frauen und Männern können das Immunsystem beeinflussen. Überdies gibt es Unterschiede im Immunsystem zwischen Frauen und Männern [10]. Ein wesentlicher Anteil des Geschlechts hängt jedoch auch mit der unterschiedlichen genetischen Veranlagung und dem Lebensstil (Rauchen, Bewegung, Ernährung) zusammen.

Vitamin-D-Mangel
Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist ein Vitamin-D-Mangel mit der Entstehung einer MS verbunden [11]. Vitamin-D-Mangel kann durch unzureichende Aufnahme von Vitamin D (z.B. in Fisch, Eiern, Pilzen oder Milchprodukten) oder zu wenig Sonnenlicht, das die körpereigene Bildung von Vitamin D fördert, verursacht werden.

Geografische Lage
Epidemiologische Studien haben zudem eine Reihe von Umweltfaktoren aufgedeckt, die zur Entwicklung von MS beitragen können [12]. Unter diesen kommt der geografischen Lage besondere Bedeutung zu: MS tritt häufiger in Regionen auf, die weiter vom Äquator entfernt sind, was darauf hindeutet, dass eine geringere Sonneneinstrahlung und damit eine verminderte Vitamin-D-Produktion das Risiko für die Entwicklung von MS erhöhen können.

Weitere mögliche Einflüsse
Der Einfluss der Bewegung und der Darmflora auf die Entstehung der MS wird heute viel diskutiert, ist jedoch noch mit einigen Unsicherheiten behaftet. Generell hat körperliche Bewegung einen gesundheitsfördernden Effekt. Ob dies jedoch einen spezifischen Einfluss bei der MS hat, wird unterschiedlich in verschiedenen epidemiologischen Studien berichtet [13]. Dasselbe gilt für die Zusammensetzung der Darmflora. Diese hängt sicher mit dem Immunsystem und der Gesundheit zusammen, aber wie genau sich die Darmflora auf die Entstehung der MS auswirkt, ist noch unklar [14].

Wie viel erklären diese Risikofaktoren?

Die oben genannten Risikofaktoren erklären nur in einem relativ geringen Ausmass, wann eine MS entsteht oder nicht [15]. Das Kuchenmodell ist auf zwei Arten unvollständig: Einerseits gibt es sicherlich noch unbekannte Risikofaktoren, andererseits versteht man das Zusammenspiel dieser Risikofaktoren noch nicht genügend. Es gibt Studien, die zeigen, dass eine genetische Anfälligkeit den Einfluss anderer Risikofaktoren erhöht. Ausserdem gibt es Hinweise darauf, dass ein Vitamin-D-Mangel bei Frauen und Rauchen das Risiko stärker erhöhen als die Summe der einzelnen Risikofaktoren [16]. Die MS bleibt also ein komplexes Puzzle, in dem noch einige Teile fehlen.

Weitere Forschung, zum Beispiel aus dem Schweizer MS Register

Für die weitere Forschung ist die Untersuchung von einzelnen Risikofaktoren weiterhin sehr wichtig. Ebenso wichtig ist es, dass Theorien, wie die Risikofaktoren zusammenspielen, in epidemiologischen Studien untersucht werden. An dieser Stelle bedanken wir uns bei den Teilnehmenden des Schweizer MS Registers, die wesentlich zur Erarbeitung dieser Theorien beitragen.

Das Schweizer MS Register hat die Teilnehmenden befragt, welche persönlichen Ursachen sie für ihre MS-Erkrankung in Betracht ziehen [17]. Die erwähnten Ursachen widerspiegeln viele der etablierten Risikofaktoren, wie zum Beispiel die Genetik. Was überrascht hat: Traumata, Stress und mentale Herausforderungen wurden sogar noch häufiger als mögliche Auslöser erwähnt.

Tatsächlich gibt es Hinweise, dass Stress auch das Immunsystem negativ beeinflusst, obwohl man diesen Faktor noch nicht als wissenschaftlich etabliert akzeptieren kann. Gleiches gilt auch für andere Faktoren, von denen in der Studie berichtet wurde. Trotzdem bringen uns in der Summe alle Antworten aus der Studie weiter. Sie geben Hinweise für die Erforschung von neuen Risikofaktoren.

Wesentlich ist dabei: die Ergebnisse schärfen im Idealfall auch die Offenheit und Aufmerksamkeit der Fachpersonen für die persönlichen Erklärungsansätze. Tatsächlich hat die grosse Unsicherheit bezüglich der Entstehung von MS auch einen Einfluss auf viele Betroffene. Sie kann eine Belastung sein, verbunden mit Schuldgefühlen. Ein offenes Gespräch zwischen Betroffenen und Fachpersonen kann helfen, die persönlichen Erklärungen einzuordnen und allfällige Missverständnisse aufzuklären.

Schlussfolgerung

Multiple Sklerose ist eine vielschichtige Krankheit, für die es keine einzelne Ursache gibt. Vielmehr entsteht sie aus einem komplexen Zusammenspiel von genetischer Veranlagung, Umwelteinflüssen und Lebensstilfaktoren. Epidemiologische Studien wie das Schweizer MS Register tragen massgeblich dazu bei, diese Risikofaktoren zu identifizieren und unser Verständnis von MS zu verbessern.

Für Menschen, die ein erhöhtes Risiko für MS haben oder mit MS leben, kann das Bewusstsein für diese Risikofaktoren stärkend sein. Informierte Lebensstilentscheidungen, wie z. B. das Vermeiden von Rauchen, körperliche Aktivität und die Sicherstellung eines angemessenen Vitamin-D-Spiegels, können dazu beitragen, das Risiko zu verringern oder die Krankheit effektiver zu behandeln.

Mit fortgesetzter wissenschaftlicher Forschung könnten die Geheimnisse der MS eines Tages entschlüsselt werden, was Hoffnung auf bessere Ergebnisse und letztendlich Heilung bietet.

 

Text

Prof. Dr. Milo Puhan & Prof. Dr. Viktor von Wyl, Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der Universität Zürich; Schweizer MS Register

M. Puhan und V. von Wyl sind Mitglieder des Medizinisch-Wissenschaftlichen Beirats der Schweiz. MS-Gesellschaft

Referenzen

1. Kenneth J. Rothman. What Is Causation? In: Epidemiology: An Introduction. Oxford University Press; 2002.

2. Hill AB. The Environment and Disease: Association or Causation? Proc R Soc Med. 1965 May;58(5):295–300.

3. Morabia A. The Public Health Approach [Internet]. Johns Hopkins University Press; 2023 [cited 2025 Aug 18]. Available from: www.press.jhu.edu/books/title/12933/public-health-approach

4. Bjornevik K, Münz C, Cohen JI, Ascherio A. Epstein–Barr virus as a leading cause of multiple sclerosis: mechanisms and implications. Nat Rev Neurol [Internet]. 2023 Feb 9 [cited 2024 Dec 11]; Available from: www.nature.com/articles/s41582-023-00775-5

5. Bjornevik K, Cortese M, Healy BC, Kuhle J, Mina MJ, Leng Y, et al. Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science. 2022 Jan 21;375(6578):296–301.

6. International Multiple Sclerosis Genetics Consortium, Patsopoulos NA, Baranzini SE, Santaniello A, Shoostari P, Cotsapas C, et al. Multiple sclerosis genomic map implicates peripheral immune cells and microglia in susceptibility. Science. 2019 Sep 27;365(6460):eaav7188.

7. Ebers GC, Bulman DE, Sadovnick AD, Paty DW, Warren S, Hader W, et al. A Population-Based Study of Multiple Sclerosis in Twins. N Engl J Med. 1986 Dec 25;315(26):1638–42.

8. Degelman ML, Herman KM. Smoking and multiple sclerosis: A systematic review and meta-analysis using the Bradford Hill criteria for causation. Mult Scler Relat Disord. 2017 Oct;17:207–16.

9. Kaufmann M, Puhan MA, Kuhle J, Yaldizli Ö, Magnusson T, Kamm CP, et al. A Framework for Estimating the Burden of Chronic Diseases: Design and Application in the Context of Multiple Sclerosis. Front Neurol. 2019 Sep 4;10:953.

10. Brasanac J, Heine J, Chien C. A Review of Sex Differences in Neurodegeneration and Psychological Comorbidities in Multiple Sclerosis and Related Disorders. Neurodegener Dis. 2025 Feb 19;25(1):21–35.

11. Balasooriya NN, Elliott TM, Neale RE, Vasquez P, Comans T, Gordon LG. The association between vitamin D deficiency and multiple sclerosis: an updated systematic review and meta-analysis. Mult Scler Relat Disord. 2024 Oct;90:105804.

12. Vitturi BK, Cellerino M, Boccia D, Leray E, Correale J, Dobson R, et al. Environmental risk factors for multiple sclerosis: a comprehensive systematic review and meta-analysis. J Neurol. 2025 Aug;272(8):513.

13. Li C, Lin J, Yang T, Xiao Y, Jiang Q, Shang H. Physical activity and risk of multiple sclerosis: A Mendelian randomization study. Front Immunol. 2022 Sep 21;13:872126.

14. Mirza A, Forbes JD, Zhu F, Bernstein CN, Van Domselaar G, Graham M, et al. The multiple sclerosis gut microbiota: A systematic review. Mult Scler Relat Disord. 2020 Jan;37:101427.

15. Olsson T, Barcellos LF, Alfredsson L. Interactions between genetic, lifestyle and environmental risk factors for multiple sclerosis. Nat Rev Neurol. 2017 Jan;13(1):25–36.

16. Merid MW, Xu L, Zhou Y, Van Der Mei I, Park DJ, Simpson-Yap S. A systematic review and meta-analysis on gene-environment interaction effects on the associations of vitamin D and sun exposure with multiple sclerosis risk. Mult Scler Relat Disord. 2025 Oct;102:106634.

17. Haag C, Steinemann N, Ajdacic-Gross V, Schlomberg JTT, Ineichen BV, Stanikić M, et al. Natural language processing analysis of the theories of people with multiple sclerosis about causes of their disease. Commun Med. 2024 Jun 24;4(1):122.