MS-Geschichten: Verkehrte Welt
MS-Geschichten«Sie erzählte mir, dass die Freundin ihrer Nachbarin an MS gestorben sei. Mit 45. Ganz furchtbar. Sie guckte mich mit verschränkten Armen an, erwartete irgendeine Reaktion, eine Antwort von mir.
Was sagt man da? «Danke für die Info, dann habe ich mit Glück noch 14 Jahre?»
Ich habe nur genickt und mein Beileid ausgedrückt, dann bin ich mit meinem Rollator auf die Strasse ausgewichen, da sie natürlich keinen Platz auf dem Gehweg gemacht hat.
Eine Alltagssituation. Aber das macht es nicht weniger schmerzhaft.
Was hatte die Frau jetzt davon, mir diese Info mitzugeben? Mich daran zu erinnern, dass Menschen an der Erkrankung sterben, mit der ich versuche zu leben? Ich versuche nicht zu weinen, wie so häufig nach solchen Begegnungen.
Denn behindert und dann auch noch traurig, damit können die Menschen erst recht nicht umgehen. Also reisse ich mich zusammen. Das ist das Erste, was ich mir angeeignet habe.
Denn meistens gehe ich «gut» mit meiner Behinderung um. Ich lache und mache Witze, ich erzähle lustige Anekdoten von harmlosen Symptomen und ich versichere den Menschen, dass alles gut ist. Dass es keinen Grund zur Sorge gibt.
Warum? Meistens nicht, weil ich mich dadurch besser fühle.
Natürlich bin ich ein fröhlicher Mensch und versuche immer das Beste aus jeder Situation zu machen. Aber ich habe vor allem gelernt, dass die wenigsten eine ehrliche Antwort hören wollen, wenn sie fragen, wie ich zurechtkomme. Kaum jemand will hören, dass ich täglich Schmerzen habe. Ja, auch genau jetzt. Ja, auch wenn ich Yoga mache.
Niemand will hören, dass bis jetzt kein Gebet, das ich gesprochen habe, irgendwas geändert hat. Dass ich nicht noch positiver denken kann, dass ich mein Bestes gebe. Kaum jemand will hören, dass ich Angst habe. Dass ich manchmal verzweifelt bin. Dass ich mir Sorgen um die Zukunft mache. Dass ich mich hilflos und ausgeliefert fühle.
Niemand will hören, dass ich nicht wieder gesund werde. Dass es vielleicht schlimmer wird.
Denn das macht den Menschen Angst. Und dann muss ich sie aufbauen und trösten. Obwohl doch eigentlich ich gerne mal getröstet werden möchte. Ich möchte, dass jemand mich in den Arm nimmt und sagt, dass alles gut wird. Dass ich nicht allein bin. Aber stattdessen muss ich einen Witz machen, um mein Gegenüber aufzumuntern. Ich sage, dass alles halb so schlimm ist, dass ich das schon schaffe.
Ich halte mich zurück, bedanke mich bei den Menschen, die mir ungefragte Tipps geben und mache das mit mir selbst aus.»
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