Gesichter der MS 2025: Andrea «Any» Sabadi

Gesichter der MS

Ich bin Andrea Sabadi, 27 Jahre alt, und in Zizers aufgewachsen. Viele nennen mich auch einfach «Any» – das ist mein Spitzname. Ich mache Musik in Bündner Mundart. Genre: alternativer Soul/Pop. Mein Künstlername als Musikerin ist Any Sabadi.

Ich wohne seit zwei Jahren mit meinem Partner und zwei Katzen in Chur, bin Mitglied des Theatervereins Zizers und gehe in meiner Freizeit gerne ins Fitness.

In welchem Alter hast du die Diagnose MS erhalten? War die Diagnose eindeutig oder gab es vorher andere Vermutungen? 
Ich habe die Diagnose im Januar 2023 bekommen, da war ich 24 Jahre alt. Die Diagnose war eindeutig nach dem MRT und der Lumbalpunktion. Das Ergebnis vom MRT zeigte auch auf, dass es ältere Läsionen gab, die, wie mein Neurologe mir damals mitteilte, etwa zehn Jahre zurückzudatieren sind. So war die Krankheit schon länger da, ich habe die MS aber erst zu diesem Zeitpunkt bemerkt.

Was waren deine ersten Gedanken direkt nach der Diagnose?
Mir wurde komisch. Ich war geschockt. Das Hirn ist so komplex. Mir war nicht zu 100% bewusst, was das für mich jetzt genau bedeutet. Muss man mir die Schädeldecke öffnen?! Wie behandelt man das?! Ich hatte Angst.

Die Krankheit MS war mir ein Begriff. Die Tatsache, dass ich mit dieser Krankheit nun leben muss, war zu diesem Zeitpunkt nicht greifbar für mich. 

Was waren deine ersten MS-Symptome? Welche bestimmen deinen Alltag heute? Hast du unsichtbare Symptome, die schwer zu erklären sind?
Im Dezember 2022 hat es mit einem Taubheitsgefühl im rechten Bein begonnen. Am merkwürdigsten fühlte es sich an, als das Wasser während des Duschens auf mein Bein plätscherte. Mein rechtes Bein zuckte immer und ich konnte nicht fühlen, ob das Wasser jetzt kalt oder heiss war. Das zog sich zwei Wochen hin und dazu kamen noch Schwierigkeiten mit der Motorik des rechten Beines. Ich konnte den Fuss nicht mehr richtig anheben, was das Treppenlaufen erschwert hat. Mein linker Fuss fühlte sich an, als wäre er permanent eingeschlafen, und wenn ich meinen Kopf nach unten neigte, bekam ich dieses elektrisierende Gefühl, das durch meinen Körper schoss.

Das wurde umgehend mit Cortison behandelt.  

Ich komme zurzeit («Holz alanga»; auf Holz klopfen) sehr gut zurecht. Das Medikament, das ich nehme, spricht an. Ich spüre hin und wieder leichte Empfindungsstörungen, wie zum Beispiel einen kühlen Schauer am linken Schienbein. Der kommt und geht, aber schränkt mich nicht ein. Müdigkeit und Erschöpfungsgefühl sind auch hin und wieder mal stärker.

 

Welche Behandlungen kommen bei dir «zum Einsatz»?
Zum Anfang hatte ich Betaferon–Spritzen. Die musste ich mir alle zwei Tage zuführen. Ich bin sehr froh, dass ich mittlerweile von diesem Medikament weg bin. Es war jedes Mal eine Überwindung und auch schmerzhaft. Man sieht heute noch gewisse Einstichstellen davon, die mich etwas stören.

Da das Medikament aber zu schwach für mich war und nicht so gewirkt hat wie erwünscht, musste ich es wechseln. Seit Mai 2024 nehme ich «Zeposia» in Form einer Hartkapsel, die ich einmal täglich einnehmen muss.

War für dich von Anfang an klar, dass du offen mit deiner Diagnose umgehen möchtest? Welche Bedenken hattest du vielleicht, privat oder im beruflichen Bereich? 
Ich empfand es als sehr wichtig, diese Diagnose zu kommunizieren. Ich habe umgehend meiner Familie, meinem damaligen Arbeitgeber und meinem engeren Umfeld Bescheid gesagt. 

Meine Eltern reagierten schockiert und besorgt. Ich hingegen versuchte, es mit meiner positiven Art etwas weniger schwer darzustellen. Mir wurde anhand der Reaktionen aber auch immer mehr bewusst, dass das etwas wirklich Ernstes ist.

Wenn du dich an jeden beliebigen Ort auf der Welt wünschen könntest. Wo wäre das und was würdest du dort unbedingt tun wollen?
Ich könnte viele Orte aufzählen, die ich schon kenne oder gerne kennenlernen würde. Aber am liebsten wäre ich bei meinem Vater, der seit mehreren Jahren in Ungarn lebt. Ich würde mit ihm zusammen im Garten «Cevapcici» braten und die Sonne geniessen. 

Um schwierige Phasen zu meistern? Was hilft dir? Was spornt dich an? Gibt es ein alltägliches Ritual oder einen «Geheimtipp», der dir besonders hilft, wenn dich die MS körperlich und mental hart fordert?
 Fitness, Musik und darüber reden. Seit ich mit der Fitness begonnen habe, merke ich, was es körperlich und vor allem auch mental mit mir macht. Es wirkt sich sehr positiv aus – durch die Fitness trinke ich auch weniger und nur noch gelegentlich Alkohol, da es die Ergebnisse vom Training beeinflusst und sowieso aufgrund meiner Diagnose «Gift» für mich ist.

Neben der Fitness hilft mir auch die Musik sehr. All meine Emotionen, die ich zu einem bestimmten Zeitpunkt fühle, stecke ich in die Musik.

Über die MS sprechen hilft auch immer.

Gibt es Menschen, die dich besonders unterstützen? Gab es Menschen, die sich nach der Diagnose von dir abgewendet haben?

Mein Partner, mit dem ich schon seit zehn Jahren zusammen bin, gibt mir sehr viel Kraft, damit umzugehen. Da ich mit ihm auch zusammenwohne, bekommt er meinen Zustand aus erster Hand mit. Die Menschen in meinem Umfeld, die Bescheid wissen, fragen hin und wieder mal, wie es mir geht. Abgewendet aufgrund der Diagnose hat sich niemand von mir.

In welchen Situationen fällt es dir schwer, deine Grenzen zu akzeptieren, und wie versuchst du damit umzugehen?
Als ich mein Medikament wechseln musste, fuhr ich für eine Zweitmeinung nach St. Gallen ins Spital. Die Neurologin hat mir gesagt: «Sie haben MS - aber die MS hat nicht Sie!». Das löste Optimismus und Kampfgeist in mir aus.

Die grössten Grenzen setze ich mir selbst. Mein Ziel ist es, so positiv wie möglich zu bleiben und damit umzugehen. In der Theorie einfach, aber manchmal schwierig in der Praxis. Mühe habe ich am meisten, wenn ich mich plötzlich sehr müde fühle, aber eigentlich noch etwas unternehmen oder erledigen wollte. 

Wenn du einen Film über dein Leben drehen würdest: Welches Genre wäre es (Komödie, Drama, Thriller, Doku?)  Gäbe es eine Schlüsselszene, um deine MS-Erfahrungen darzustellen?
Es wäre eine Doku, die von allem etwas beinhaltet. Die Schlüsselszene zeigt, wie ich versuche, einen Song über MS zu schreiben. Und das wäre dann der Track für den Abspann.

Hast du einen Plan für dein weiteres Leben? Oder lässt du alles auf dich zukommen und entscheidest dann situativ?
Ich habe keinen wirklichen Plan, aber Träume und Ziele. Diese jedoch brauchen ihre Zeit. Ich gehe ganz nach dem Schritt-für-Schritt-Prinzip. Ich bewundere Leute auf eine Art, die ihr Leben planen und nach dem Plan fahren. Ich habe bisher die Erfahrung gemacht, dass einen Plan zu haben, sicher nicht schlecht ist, es aber schlussendlich immer anders kommt, als man denkt. Ich versuche immer, gewappnet zu sein und aus jeder Situation das Beste zu machen.

Welchen Rat würdest du einem Menschen geben, der gerade neu mit MS konfrontiert ist (und sich möglicherweise verloren fühlt)?
Es ist okay sich ängstlich und verloren zu fühlen im ersten Moment. Denke dabei aber an DEIN Leben! Versinke nicht darin. Finde deinen Mut wieder. Wie mir einmal gesagt worden ist: «Du hast MS, aber die MS hat nicht dich!» 

Erkundige dich über die Krankheit, trete einer MS-Gruppe bei, um dich mit Leuten mit dem gleichen Schicksal auszutauschen. Du wirst dich verstanden fühlen und merken, dass du nicht allein damit bist. 

Du, deine MS und Mobilität. Wenn du unterwegs bist – mit Bahn, Bus, Auto, zu Fuss, im Flieger – läuft alles rund?
Ich bin hauptsächlich mit dem Auto unterwegs. Wenn ich aber mal einen etwas längeren Weg zu Fuss gehen muss, fühlen sich meine Beine je nach Tagesform etwas schwerer an und sie kribbeln. Das geht dann aber auch wieder vorbei.

Wenn du deine MS als Lebewesen beschreiben müsstest: Welche 3 hauptsächlichen Charaktereigenschaften würde dieses Wesen besitzen?
Unberechenbar, launisch und scheu. 

Was kannst du der MS Positives abgewinnen?
Seit der Diagnose achte ich bewusster auf mich. Ernähre mich viel gesünder und mache Sport. Alles Dinge, die ich vorher nie für nötig gehalten habe. Stattdessen dachte: «Ich bin noch jung, mein Körper hält das schon aus.» Ich bin froh, konnte ich durch die MS diesen Wandel vollziehen. 

Gab es einen Schlüsselmoment, in dem du erkannt hast, dass du stärker bist, als du jemals dachtest?
Es gab viele solcher Schlüsselmomente in meinem Leben. Dadurch habe ich volles Vertrauen, dass egal was kommt, ich schon damit fertig werde und ich einen vernünftigen Weg finde, damit umzugehen.

Welche 3 Eigenschaften magst du an dir? Welche 3 «nerven» eher?
Ich mag meinen Humor, meine Tapferkeit und Empathie. Meine launische, bequeme und etwas unordentliche Art nervt mich.

Was ist deine grösste Leidenschaft? Ein Traum, den du dir erfüllen möchtest?
Meine grösste Leidenschaft ist das Singen. Ich habe schon sehr früh damit begonnen und weiss, dass ich schon immer Sängerin werden wollte. Nun mache ich Musik und spiele auf Bühnen. Das ist für mich an und für sich schon ein Traum, der in Erfüllung gegangen ist. Ich träume nun aber von den ganz grossen Bühnen, auf denen ich in Zukunft gerne spielen würde. Festivals, ESC…

Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Welche Jahreszeit ist dein Favorit und warum?
Ich liebe den Frühling, denn in dieser Jahreszeit wurde ich geboren. Alles fängt wieder an zu blühen und zu leben. Was ich aber noch mehr liebe, ist der Herbst. All die Farben der Bäume. Es ist so etwas Schönes, wenn die Sonne auf die Laubbäume schimmert und dabei die Blätter herunterschweben. 

Was macht dir in Bezug auf die MS Angst? Was gibt dir Hoffnung?
Mir macht am meisten Angst, dass die MS so unberechenbar ist. Diese Krankheit ist eine richtige «Wundertüte». Der Krankheitsverlauf der MS kann unterschiedlicher nicht sein. Was mich traurig macht, sind gerade die MS-Betroffenen, die es schwerer trifft. Zu wissen, dass es bei mir auch so sein kann, macht mir schon zu schaffen.

Was mir aber Hoffnung gibt, ist zu sehen, wie der Verlauf bei anderen Menschen auch ruhig sein kann und sie sehr gut mit der MS leben.

Wie oder wo tauschst du dich aus? Welche Communitys helfen dir bei Fragen? Zum Beispiel auf social media-Plattformen, in Regionalgruppen, etc.?
Ich bin in einer Regionalgruppe. Die Treffen finden etwa alle zwei Monate statt. Es tut gut, sich auszutauschen und andere Leute mit demselben Schicksal kennenzulernen. 

Hast du Erwartungen an die Gesellschaft im Umgang mit Menschen, die eine chronische Erkrankung haben? Was muss sich deiner Meinung nach noch ändern? Was würdest du dir wünschen?
Man sieht seinen Mitmenschen manchmal vieles nicht an. Ich finde generell, dass der Umgang in der Gesellschaft etwas menschlicher, empathischer und achtsamer sein darf. Ob man jetzt chronisch krank ist, oder nicht. Du weisst nie, mit was sich die anderen rumschlagen müssen. 

Danke, dass du ein «Gesicht der MS» geworden bist. Was hat dich motiviert? Hattest du irgendwelche Bedenken?
Ich bin auf das Interview mit einem Mitglied der Regionalgruppe gestossen und hatte das Bedürfnis, das auch zu tun. Mut zu machen und mutig zu sein. Ich möchte offen damit umgehen und anderen Betroffenen damit auch Hoffnung geben. Meine Bedenken sind, dass man das Gefühl bekommt, man müsse mich jetzt mit Samthandschuhen anfassen. Auf keinen Fall! Ich möchte, dass man mir weiterhin so begegnet, wie gewohnt. 

Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft? Nimmst du Beratung, Angebote oder Dienstleistungen in Anspruch? Was könnte die MS-Gesellschaft besser machen (Beratung, Betreuung, Infos)?
Ich habe mich bisher bei der MS-Gesellschaft über die Regionalgruppen erkundigt. Wenn man die Seite besucht, ist sofort klar, wo und wie man zu der jeweiligen Dienstleistung kommen kann. Ich bin dankbar, dass es diese Plattform gibt.


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