Hallo, ich bin Sibylle, 40 Jahre alt, und wohne im wunderschönen Emmental. Ich lebe mit meiner Hündin Tala, meinem Freund Andreas und dessen Hund Bashiri zusammen. Ursprünglich habe ich Hochbauzeichnerin gelernt und die höhere Fachschule für Hochbautechnik absolviert. Vor kurzem habe ich einen neuen Schritt gewagt und arbeite neu im Backoffice einer Autowerkstatt.
Ich bin für die Buchhaltung und alles, was so drumherum ist, verantwortlich. Ich kann heute in einem 60 %-Pensum arbeiten und freue mich darüber.
Wann bekamst du die Diagnose MS? Welche Verlaufsform «hast du»? Welche Symptome belasten dich am meisten?
Ich bekam meine Diagnose bereits mit 24 Jahren. Es war damals nicht einfach, weil die MS mir gleich zu Beginn eine grosse, bunte Auswahl an Symptomen anerbot. So litt ich an Drehschwindel, der mich dauernd erbrechen liess, so dass ich massiv an Gewicht verlor. Ich verlor auch meine Stimme und einen grossen Teil meines Augenlichts. Mein Gleichgewicht funktionierte nicht mehr, so dass ich im Rollstuhl war. Mit anderen Worten: Meine MS war ziemlich ausser Rand und Band. Das hiess damals totale Abhängigkeit von Drittpersonen. Essen, Körperpflege, nichts ging mehr selbstständig. Das Einschneidendste war aber, nicht sprechen zu können und somit, sich nicht mitteilen zu können. Mit guten Medikamenten, Reha und einer grossen Prise Glück hat sich mein Gehirn erholt, umorganisiert und vieles geht wieder ziemlich gut. Ich bin jetzt seit 16 Jahren schubfrei. Ich bin körperlich nicht so fit. Bei längerer Anstrengung oder Spaziergängen verlassen mich die Kräfte und das Gleichgewicht, dann torkle ich, als wäre ich beschwipst. Symptome wie die Fatigue, der Schwindel und besonders die kognitiven Einschränkungen wie das Gedächtnis machen mir das Leben schwer und belasten mich auch.
Welche Schlagzeile würdest du 2024 gerne über dich lesen?
Ich mag keine Schlagzeilen und stehe auch nicht gerne im Rampenlicht. Wenn aber die eine oder andere Person über mich sagen würde, dass ich ihr Leben in irgendeiner Form bereichert habe, wäre das schon sehr schön.
Wenn du deiner MS ein Tattoo widmest? Welches Motiv? Welcher Text? Wo am Körper?
Eigentlich habe ich das schon. Vielleicht nicht explizit meiner MS, aber dem Leben, und mein Leben gibt es nur mit meiner MS. Das Tattoo zeigt einen Traumfänger, eine Uhr und die Worte «Die beste Zeit ist jetzt» … die beste Zeit sollte immer JETZT sein, auch an schlechten Tagen.
Was macht dir Stress und wie drückt sich der Stress bei dir aus? Was tust du dagegen?
Neue unbekannte Situationen, Orte, Gebäude, Aufgaben … alles, was neu für mein Hirn ist, ist Stress. Hinzu kommen Geräusche, Menschenmengen, Lichter, etc. Wenn zu viel, zu schnell auf mein Hirn einprasselt, macht mir das Stress. In solchen Situationen kann ich dann nicht mehr denken, keinen klaren Gedanken fassen. Manchmal habe ich dann auch Mühe, Worte zu finden und mich auszudrücken. Dauert dieser Zustand an, bekomme ich Schwindel und Übelkeit. Oft kommt nach einer solchen Situation ein Fatigue-Anfall.
Ferien am Meer oder in den Bergen? Was findet deine MS besser?
Keine Ahnung, was meine MS besser findet, aber ich bevorzuge die Berge. Das habe ich schon vor meiner Diagnose. An die See würde ich zwar auch gerne einmal reisen, dann aber an den Atlantik oder an die Nordsee, da wo die See rau ist – keine Bikini-Strandferien.
Was sollte dein soziales Umfeld gerne öfter tun? Was lassen?
Grundsätzlich sollte es lassen, über andere Menschen zu urteilen. Man weiss nie, welche Wege eine Person schon gegangen ist. Ich würde mir zudem wünschen, dass Aussagen einfach angenommen werden, nicht immer hinterfragt und kleingeredet werden. Ein Nein ist ein Nein und ich kann oder möchte das nicht, heisst ich kann oder möchte das nicht. PUNKT. Und wenn ich sage, ich bin müde, bin ich müde – nicht faul oder müsste früher ins Bett.
Kopf oder Herz/Bauchgefühl? Auf was vertraust du im Alltag?
Ich bin ein Herz-Mensch, dem der Kopf ganz viel reinredet. So passiert im Alltag viel, dass mein Kopf entscheidet. Wenn ich mir aber die Zeit nehme und nicht «gestresst» bin, dann höre ich auf mein Herz und vertraue auf mein Bauchgefühl.
Welches Kompliment hat man dir zuletzt gemacht?
Aus dem Nichts kam eine fremde Frau auf mich zu und sagte, dass ihr meine Haare gefallen.
Du und der Schlaf: Freund oder Feind?
Ich liebe Schlaf und wenn mich kein Gedankenkarussell davon abhält, dann geht’s auch ganz gut.
Wie findest du es, wenn wir über «prominente» MS-Betroffene, wie zum Beispiel Selma Blair oder Christina Applegate berichten? Was wäre deine erste Frage an einen von ihnen? Und an wen?
Für mich spielt es keine Rolle, ob jemand bekannt ist oder nicht. Ich finde es grossartig, wenn eine prominente Person über ihre Erkrankung spricht. Das erhöht den Bekanntheitsgrad der Erkrankung, schafft Aufmerksamkeit. Es wird über die Erkrankung berichtet, aufgeklärt und es kann helfen, Vorurteile abzubauen. Ich würde aber jedem «Gesicht der MS» dieselbe Frage stellen: Wie geht es dir heute?
Würdest du gerne einmal für ein Jahr im Ausland leben? Wo? Was hält dich davon ab?
Auszuwandern stand einmal auf meiner Wunschliste und mein Exmann und ich haben uns ernsthaft damit auseinandergesetzt. Die Unsicherheiten mit der Kostenübernahme für die Medikamente, die medizinische Versorgung, meine unsichere Erwerbsfähigkeit, das Wissen über meine mangelnde Belastbarkeit … und natürlich noch all die anderen Gründe und Ängste und Fragen, die sich selbst «gesunde» Auswanderer so stellen, waren am Ende Grund genug, dass dieser Traum begraben wurde. Schweden hätte es werden sollen.
Was wolltest du als Kind (beruflich) werden? Hat dich die MS gebremst, es zu werden?
Oh, das ist schon lange her. So richtige Traumberufe hatte ich nie, oder ich kann mich zumindest nicht mehr daran erinnern. Mein beruflicher Werdegang hätte sicherlich anders ausgesehen ohne MS. Aber ob ich dann heute glücklicher wäre – ich denke nicht. Ich bin nicht der Mensch, der darüber nachgrübelt, ob das Leben ohne MS besser wäre. Mein Leben ist gut, genau so wie es ist, und ansonsten liegt es in meiner Hand, es nach meinen Möglichkeiten zu verändern.
Wenn deine MS ein Tier wäre, welches und warum?
Ein Fabelwesen, welches sich nicht genau beschreiben lässt. Manchmal tritt es als unbezwingbarer dunkler Dämon in Erscheinung, andern Tags als liebenswerter, quitschbunter Begleiter, der das Leben bereichert. Das Fabeltier lässt sich nicht greifen und weil man es nicht genau beschreiben kann, hat jeder, dem man davon erzählt, ein anderes Bild im Kopf – genau wie bei der MS. Tausend Gesichter eben, und jedes ist auf seine Art und Weise genau richtig.
Hat sich aus deiner Sicht in den letzten Jahren etwas verändert in der Gesellschaft oder Politik gegenüber chronisch kranken Menschen? Was ist vielleicht besser oder schwieriger geworden?
Meinem Empfinden nach sind Politik und Gesellschaft bemüht um Inklusion und es wird viel darüber gesprochen. Die Schere zwischen der Gesellschaft, die sich grösstenteils um soziale Gerechtigkeit chronisch kranker Menschen bemüht, und dem Arbeitsmarkt, der immer schneller, höher, weiter fordert und immer hektischer wird, empfinde ich als chronisch kranke Person immer mehr als Belastung. Denn das Gefühl in der Öffentlichkeit, «es wird so viel für diese Menschen getan» und meinem Empfinden, dem immer grösseren Druck standhalten zu müssen, ist belastend.
Wie stark hat die Diagnose MS deine Einstellung zum Leben verändert? Gibt es bestimmte Dinge, die du vor der Diagnose über das Leben und die Gesundheit geglaubt hast, die sich seitdem verändert haben?
Dies ist eine schwierige Frage. Ich bin mit 24 Jahren mit voller Wucht von der Krankheit getroffen worden. Ich habe mich vom Pflegefall zurück ins Leben gekämpft und lebe heute ein selbstständiges Leben, an das damals niemand geglaubt hat. Mit 24 hat man Träume, berufliche, sowie private Ziele und Vorstellungen von seiner Zukunft. Die Türen in ein Leben voller Möglichkeiten öffnen sich erst. Man macht sich keine Gedanken über Krankheit oder Gesundheit – man will leben, Vollgas geben. Was hat sich also verändert? Alles! Einige Jahre versuchte ich, diesem Leben hinterherzurennen, den Träumen, der Karriere, dem Leben, das die anderen damals 30-Jährigen lebten, nur um immer wieder zu scheitern und meine Grenzen von der MS aufgezeigt zu bekommen. Heute verspüre ich eine gewisse Ruhe in mir, was das Leben und dessen Endlichkeit angeht. Ich bin mehr im Hier und Jetzt. Ich mache keine grossen Pläne. Ich freue mich über jeden Schritt und empfinde Dankbarkeit. Ich habe auch die Tage, an denen ich nur Wut empfinde für meine MS, aber es ist okay, diese Gefühle gehören dazu. Ich weiss nicht warum, aber ich bin nie verzweifelt an der MS und habe einfach immer weitergemacht. Man weiss nie, wann sich das Leben verändert, also versuche ich, den Moment zu geniessen.
Du darfst für 24 Stunden in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen. Wer würdest du sein wollen? Und warum?
Ich würde mit meinem Freund tauschen. Er ist immer da für mich, aber auch für ihn ist es schwierig, meine Empfindungen immer nachzuvollziehen oder zu verstehen, warum heute etwas nicht geht, was gestern möglich schien. Ich möchte mich mit meiner MS einmal durch seine Augen erleben, um auch zu verstehen, wie ich gewisse Dinge verständlicher ausdrücken könnte.
Umgekehrt: Wer sollte mal einen Tag lang dein Leben mit MS führen? Warum?
Mein Freund. Genau aus demselben Grund wie die Antwort oben. Ich möchte, dass er versteht, dass es manchmal schwierig ist, mich klar auszudrücken oder genau zu erklären, was und warum etwas gerade nicht geht – manchmal weiss ich es ja selbst nicht – es geht eben einfach nicht.
Stell dir vor du könntest mit deiner MS sprechen, was würdest du ihr sagen/sie fragen wollen?
Ich spreche ja ab und zu mit meiner MS, oder vielleicht nennt man das auch einfach Selbstgespräch. Dann frage ich sie manchmal, warum sie zum Beispiel ausgerechnet heute rumzicken muss, oder ich bitte sie darum, einfach noch ein bisschen zu schlafen und mich mein Ding machen zu lassen. Wenn ich aber wirklich eine Antwort bekäme von ihr, würde ich sie Folgendes fragen: Was ist dein Ursprung? In der Hoffnung, dass dies der Forschung weiterhelfen würde.
Zu welcher Tageszeit erlebst du deine besten Momente? Warum?
Die schönsten Momente sind, wenn ich zu Hause zum Fenster hinaus schaue. Die Berge im Hintergrund sehe, die Landschaft und mein Freund und unsere Vierbeiner zu Hause sind. Alles, was ich liebe, finde ich hier in unserem Zuhause. Zu viert durch den ruhigen Wald schlendern oder gemeinsam die Natur geniessen, abseits vom Rest der Welt, sind ebenfalls wertvolle Momente, die mir Kraft geben.
Wurdest du schon mal auf Grund der MS nicht ernst genommen? Wie bist du damit umgegangen?
Immer wieder. Mir sieht man heute die MS kaum mehr an und wer mich nicht kennt, merkt auch nichts. Meistens beruht das «nicht ernst genommen werden» auf Unwissenheit und Unsicherheiten. Heute kann ich damit umgehen. Früher dachte ich immer, ich muss alles allen erklären, bis derjenige es auch wirklich, wirklich versteht. Chancenlos. Oft merke ich auch, dass Menschen nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, wenn ich ihnen von der MS erzähle. Wie sollen sie auch, sie stecken ja nicht drin.
Wenn du ein Vorurteil gegen MS aus den Köpfen der Menschheit löschen könntest, welches wäre das?
Ich finde, es gibt zwei Extreme: MS = Rollstuhl oder MS = ist ja heute nicht mehr schlimm. Beide sollten gelöscht werden – MS ist so individuell, so wie jeder Mensch individuell ist.
Hast du Kontakt zu anderen MS Betroffenen? Hilft dir der Austausch mit anderen MS Betroffenen?
Ich habe nicht explizit Kontakt mit anderen Betroffenen. Früher in der Infusionstherapie waren wir immer eine Gruppe, das war schon ganz schön. Sich auszutauschen, verstanden zu fühlen, ohne sich zu erklären. Heute freue ich mich, wenn sich ein Gespräch mit jemandem ergibt, der auch betroffen ist, aber ich suche es nicht explizit. Ich bin mehr als meine MS und möchte mich mit Menschen austauschen, mit denen ich mich persönlich verstehe und auf einer Ebene bin. Dann ist es auch selten ein Problem, dass meine MS nicht verstanden wird.
Was unterscheidet dich von anderen MS-Betroffenen?
Jeder Mensch ist individuell und jeder Mensch hat seine Geschichte, daher unterscheiden wir uns alle voneinander.
Wenn du einen Tag ohne MS-Symptome erleben könntest, wie würdest du diesen Tag gestalten?
Ich würde eine lange Bergtour machen wollen.
Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft? Nimmst du Beratung, Angebote oder Dienstleistungen in Anspruch?
Es gab Phasen und wird es sicher auch wieder welche geben, in denen ich die Beratung in Anspruch genommen habe. Ich bin jedes Mal sehr dankbar für die unkomplizierte Hilfe, die ich bekomme und für die kompetenten Antworten und Hilfestellungen – danke.
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