Mein Name ist Alena Jungi, ich bin 20 Jahre alt und ich bin seit 4 Jahren in einer glücklichen Beziehung. Gemeinsam mit meiner Familie wohne ich in der Nähe von Bern. Ich bin ein aufgestellter, einfühlsamer und abenteuerlustiger Mensch. Ich habe meine 3-jährige Lehre zur Fachfrau Gesundheit letztes Jahr abgeschlossen und befinde mich nun in der Ausbildung zur diplomierten Pflegefachfrau.
Wann bekamst du die Diagnose MS? Welche Verlaufsform «hast du»? Welche Symptome belasten dich am meisten?
Ich bekam meine Diagnose im September 2022. Mit Sensibilitäts-Störungen beider Beine und dem darauffolgenden Kraftverlust habe ich mich damals auf dem Notfall vorgestellt. Nach 2 Spitalaufenthalten, mehreren Lumbalpunktionen, verschiedensten Blutentnahmen und diversen MRIs konnte schliesslich die Diagnose «Multiple Sklerose» gestellt werden. Seitdem hatte ich keinen MS-Schub mehr.
Die motorische Fatigue belastet mich zurzeit am meisten. Auch nach 8 bis 9 Stunden Schlaf fühlt sich mein Körper schwer, ermüdet und kraftlos an. Ich kann in solchen Situationen kaum etwas greifen, meine Hände sind schlapp und auf den Beinen stehen funktioniert nur mühsam. Auch wenn ich mich hinlege und für ein paar Stunden schlafen würde, sind die Symptome immer noch da und meist werden sie mit dem Schlaf nur noch schlimmer.
Die Fatigue zu erklären, finde ich eines der schwierigsten Dinge, weil man sich oftmals anhören muss, dass andere Menschen ja auch «müde» sind. Für uns MS-Betroffene ist diese Müdigkeit jedoch komplett anders.
Zudem kommt dazu, dass ich bereits vor meiner MS-Diagnose seit einigen Jahren an Rückenschmerzen leide. Diese begleiten mich fast immer durch meinen Alltag.
Wenn du dir eine «Superkraft» aussuchen dürftest, welche wäre das und warum?
Wenn ich eine Superkraft hätte, würde ich diese gerne einsetzen, um alle Menschen zu heilen. Vielleicht ist das für manche ein Standard-Satz, aber ich würde es mir wünschen, dass niemand mehr auf dieser Erde leiden muss. Niemand hat es verdient, chronisch krank zu sein, an Krebs zu erkranken oder auch psychisch krank zu sein. Ich wünsche mir eine Welt ohne Sorgen, ohne Probleme und ohne leidende Menschen.
Wenn du deiner MS ein Tattoo widmest? Welches Motiv? Welcher Text? Wo am Körper?
Ich habe mir bereits einen Löwen tätowiert, welches mein Sternzeichen ist, aber auch meiner MS gewidmet ist. Anfang dieses Jahres habe ich mal wieder einen Termin bei meiner Tätowiererin vereinbart, um mir meinen Herzenswunsch zu erfüllen, nämlich das Jahr meiner Diagnose stechen zu lassen.
Was macht dir Stress und wie drückt sich der Stress bei dir aus? Was tust du dagegen?
Ich denke, dass ich für mich selbst mein grösster Stressfaktor bin. Ich setze mich schnell unter Druck und habe hohe Erwartungen an mich selbst. Ich würde gerne alles perfekt machen, musste jedoch lernen, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ich stresse mich selbst, indem ich gerne alles durchgeplant haben möchte. Mir fällt es schwer, nichts zu planen und die Dinge auf mich zukommen zu lassen.
Wenn ich merke, dass ich nicht weiss, woran ich bin, werde ich unruhig, innerlich nervös und ungeduldig. Auch gebe ich ungern die Kontrolle ab und überlasse etwas dem Zufall. Deswegen würde ich gerne überall 120 % geben und all die Arbeit auf mich nehmen, was dazu führt, dass ich gestresst bin und müde werde. Ich versuche zu lernen, die Kontrolle abzugeben, damit ich für mich selbst einmal durchatmen kann.
Ferien am Meer oder in den Bergen? Was findet deine MS besser?
Für mich eine leichte Frage. Definitiv das Meer, bisher hat sich meine MS nämlich nicht darüber beklagt.
Was sollte dein soziales Umfeld gerne öfter tun? Was lassen?
Mein jetziges Umfeld will immer das Beste für mich und ist in jeder Lebenssituation für mich da. Sie nehmen mich, wie ich bin, mit all meinen Ecken und Kanten. Seitdem ich meine MS-Diagnose erhalten habe, habe ich manchmal das Gefühl, dass ich mit Samthandschuhen angefasst werde. Genau das ist aber eine Sache, die ich nie wollte. Denn nur weil ich chronisch krank bin, will ich nicht anders behandelt werden.
Es ist sicher auch für mein Umfeld nicht immer leicht, das Gleichgewicht zwischen dem Nachfragen, wie es mir geht und dem mir trotzdem Raum und Zeit zu geben, zu finden. Ich bin unendlich dankbar, dass meine Familie, meine Freundinnen und auch mein Freund in dieser Zeit für mich da waren und es immer noch sind. Für mich ist dies keine Selbstverständlichkeit und ich bin unendlich glücklich, diese Menschen in meinem Leben zu haben.
Kopf oder Herz/Bauchgefühl? Auf was vertraust du im Alltag?
Schwierige Frage. Ich bin, glaube ich, eher ein Kopfmensch, da ich dazu neige, mir alles tausend Mal durch den Kopf gehen zu lassen und alles genau zu überdenken. Die meiste Zeit gebe ich jedoch mein Bestes und
entscheide mit meinem Herzen.
Welches Kompliment hat man dir zuletzt gemacht?
Mir hat letztens eine Patientin gesagt, dass ich ein toller, aufgestellter und sehr liebenswürdiger Mensch sei und dass sie merke, dass ich meine Arbeit mit Herzblut mache.
Was bedeutet Familie für dich?
Familie ist für mich mein Zuhause, ein Ort, wo ich sein kann, wie ich bin. Ich habe das grosse Glück, dass ich eine intakte Familie habe und meine Eltern und Geschwister immer für mich da sind. Sie unterstützen mich in all meinen Entscheidungen und haben mich von Tag eins meiner Diagnose begleitet und sind keine Sekunde von meiner Seite gewichen. Bei meiner Familie kann ich vom Alltag abschalten, auf andere Gedanken kommen und meine Sorgen vergessen.
Du und der Schlaf: Freund oder Feind?
Ich würde sagen, dass der Schlaf und ich Freunde sind.
Wie findest du es, wenn wir über «prominente» MS-Betroffene, wie zum Beispiel Selma Blair, Christina Applegate oder Kuno Lauener berichten? Was wäre deine erste Frage an einen von ihnen? Und an wen?
Ich finde es toll, dass auch über diese Menschen gesprochen wird. Auch sie sind nur Menschen und machen die gleiche Krankheit wie wir alle durch. Meine Frage wäre: «Was war dein erster Gedanke, als du die MS-Diagnose erhalten hast?» Diese würde ich an Kuno Lauener richten, da meine Mama schon immer seine Musik gehört hat und ein «kleiner Fan» von ihm ist.
Würdest du gerne einmal für ein Jahr im Ausland leben? Wo? Was hält dich davon ab?
Nach meinem Abschluss zur Fachfrau Gesundheit habe ich all meinen Mut zusammengenommen und habe beschlossen, dass ich eine Auszeit brauche und ich eine Reise für mich alleine antreten möchte. Ich wollte alleine Erfahrungen sammeln und mir ein Stück weit auch selbst etwas beweisen. Ich habe 5 Wochen in San Francisco verbracht. Ich besuchte eine Sprachschule, durfte tolle neue Menschen kennenlernen und habe vor allem für mich selbst ganz viel gelernt. Zu diesem Zeitpunkt war es ein Jahr her seit meiner Diagnosestellung und ich hatte das Gefühl, dass ich für mich selbst die Diagnose erst auf dieser Reise richtig verarbeiten konnte. Ich habe dort gelernt, dass nichts auf dieser Welt selbstverständlich ist und ich jeden Tag so leben möchte, als wäre es mein letzter. Denn die Diagnose hat mir gezeigt, dass man nie weiss, was im Leben auf einem zukommt. Diese Reise hat für mich vieles verändert und ich bin unendlich dankbar für diese Erfahrung.
Deswegen ist diese Frage leicht und ich wäre die erste, die «JA» sagen würde zu einem Jahr im Ausland. Ich würde gerne wieder nach Kalifornien und die Westküste bereisen. Mein Kindheitstraum ist und bleibt aber, nach New York zu gehen.
Was wolltest du als Kind (beruflich) werden? Hat dich die MS gebremst, es zu werden?
Seit ich klein bin, habe ich immer gesagt, dass ich Hebamme werden will, wie meine Mama. Meine Mama ist und bleibt mein Vorbild. Es ist weiterhin mein Wunsch, die Ausbildung zur Hebamme zu machen und ich bin meinem Ziel schon ein Stück näher und freue mich, bald genau diesen Beruf ausüben zu können, bei dem mein Herz aufgeht und auch ich selbst aufblühen kann.
Hat sich aus deiner Sicht in den letzten Jahren etwas verändert in der Gesellschaft oder Politik gegenüber chronisch kranken Menschen? Was ist vielleicht besser oder schwieriger geworden?
Für mich schwierig zu beantworten, da ich noch nicht so lange erkrankt bin und mich noch zu wenig damit befasst habe. Ich weiss jedoch, dass weiterhin die Diagnose verharmlost wird und die Symptome nicht so ernst genommen werden, wie sie sollten.
Wenn Du morgen zum «Bundesrat für Forschung gegen die MS» ernannt wirst, was sind deine ersten 3 Massnahmen?
Lieber würde ich nicht zu dieser Funktion ernannt werden.
Wie stark hat die Diagnose MS deine Einstellung zum Leben verändert? Gibt es bestimmte Dinge, die du vor der Diagnose über das Leben und die Gesundheit geglaubt hast, die sich seitdem verändert haben?
Meine MS Diagnose hat meine Einstellung zum Leben vollständig verändert. Bevor ich die Diagnose erhalten habe, habe ich das Leben als selbstverständlich angesehen. Ich habe vieles immer auf den nächsten Tag, die nächste Woche, den nächsten Monat oder sogar auf das nächste Jahr geschoben. Weil ich immer dachte, ich bin ja noch jung, ich habe noch so viel Zeit. Ich habe mich um Menschen bemüht, habe mich um die Probleme anderer gekümmert und habe immer «ja» zu allem gesagt.
Seit meiner Diagnose, habe ich gelernt, jeden Tag zu leben, als wäre es mein letzter. Ich schätze mein Leben ganz anders und sehe nichts als selbstverständlich mehr. Ich habe Momente im Leben, da denke ich oftmals, was ist, wenn ich genaue diese Tätigkeit, die ich gerade mache, in einem Jahr nicht mehr machen kann. Genau aus diesem Grund, schätze ich auch die ganz kleinen Momente in meinem Leben.
Ich habe gelernt «Nein» zu sagen und für mich einzustehen und zu kämpfen. Ich habe gelernt, mich an erster Stelle zu sehen, um meine physische und psychische Gesundheit zu schützen.
Du darfst für 24 Stunden in die Haut eines anderen Menschen schlüpfen. Wer würdest du sein wollen? Und warum?
Ich würde gerne in die Haut einer Schauspielerin schlüpfen. Es ist egal welche Person, aber ich würde gerne einmal erleben, wie es sich an einem Filmset anfühlt, mit all den Kleidern, den Umstylings und den verschiedenen Menschen.
Umgekehrt: Wer sollte mal einen Tag lang dein Leben mit MS führen? Warum?
All die Menschen, die das Gefühl haben, dass eine chronische Erkrankung nicht schlimm ist, da man mir ja äusserlich nichts ansieht. Diese Menschen sollten erleben, wie sich diese Krankheit auf das psychische und physische Befinden auswirkt.
Stell dir vor, du könntest mit deiner MS sprechen, was würdest du ihr sagen/sie fragen wollen?
Ich würde mich einfach bei ihr bedanken. Dank dieser Diagnose sehe ich mein Leben mit anderen Augen, lebe bewusster und geniesse jeden Moment.
Zu welcher Tageszeit erlebst du deine besten Momente? Warum?
Ich kann meine Momente nicht auf eine Tageszeit definieren. Meine guten Momente kommen und gehen.
Wurdest du schon mal auf Grund der MS nicht ernst genommen? Wie bist du damit umgegangen?
Ich erlebe das leider nicht selten. Es kommt immer wieder vor, dass gewisse Menschen nicht verstehen, was es bedeutet, MS zu haben und mich mit meinen Symptomen nicht ernst nehmen. Wie schon erwähnt, ist von aussen keine Einschränkung sichtbar, aber trotzdem bin ich nicht gesund. Oftmals wird einfach darüber hinweg geschaut oder teilweise merke ich in den Gesichtern der Menschen, dass sie mich nicht ernst nehmen. Ich habe gelernt, mich von solchen Menschen zu distanzieren.
Wenn du ein Vorurteil gegen MS aus den Köpfen der Menschheit löschen könntest, welches wäre das?
Das Vorurteil, dass nur Menschen MS haben, die im Rollstuhl sitzen oder eine sichtbare Beeinträchtigung haben, würde ich gerne aus den Köpfen der anderen löschen. Nur weil Personen in ihrer Gehfähigkeit nicht eingeschränkt sind und man ihnen physisch nichts ansieht, heisst dies nicht, dass sie nicht an einer chronischen Erkrankung leiden. Gerade im Zusammenhang mit meiner Arbeit höre ich immer wieder, dass Menschen mit MS kompliziert seien. Dies ist ein Vorurteil, welches ich gerne beseitigen würde.
Wenn du einen Tag ohne MS-Symptome erleben könntest, wie würdest du diesen Tag gestalten?
Ein Tag ohne Rückenschmerzen wäre für mich wundervoll. Ich bin jedoch nicht so eingeschränkt, dass ich meinen Alltag nicht leben kann, wie ich möchte. Ich kann meinen Tag immer so gestalten, wie ich das gerne möchte. Manchmal muss ich für mich selbst mehr Pausen einplanen und einmal mehr sitzen, als andere.
Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft? Nimmst du Beratung, Angebote oder Dienstleistungen in Anspruch?
Ich bin mit der MS-Gesellschaft nun das erste Mal richtig in Berührung gekommen. Ich habe zuvor zwar alle Informationen zu meinem Medikament über diese Seite gelesen, aber habe mir erst jetzt bewusst Zeit genommen, andere Geschichten zu lesen. Zurzeit nehme ich keine Angebote in Anspruch. Ich finde es jedoch toll, was es alles für Angebote gibt. Auch gerade mit diesen verschiedenen Beiträgen von anderen Menschen, wird einem ermöglicht, in die Leben anderer hineinzuschauen - und das macht Mut.
Immer gesucht: Neue Gesichter der MS
- Du liest und magst unsere Portrait-Serie «Gesichter der MS»?
- Du und deine MS, ihr habt eure ganz eigene Geschichte?
- Du möchtest sie erzählen, um anderen Mut zu machen? Und
- Du willst ihnen zeigen, dass sie nicht alleine sind?
Dann schreib uns eine Mail mit dem Betreff «Gesichter der MS» an: redaktion@multiplesklerose.ch
und wir schicken dir zum Kennenlernen ganz unverbindlich den jeweils aktuellen Portrait-Fragebogen zu. Du kannst dann in aller Ruhe überlegen, ob du mitmachen möchtest.
Liebe Grüsse, deine Redaktion
P.S. Du magst/kannst nicht mitmachen, kennst aber jemanden, der gerne dabei wäre? Dann erzähl’ es einfach weiter…