Ich bin 62 Jahre alt und leite beruflich ein Betreutes Wohnen für Männer mit psychischer oder Suchterkrankung in Chur. Hier lebe ich mit meiner Partnerin Martina, seit ich 2014 aus Deutschland ins schöne Graubünden zog, und fühle mich richtig «dahei».
An wem bist du «Ganz nah dran»? In welchem Verhältnis stehst du zu «deinem/deiner» MS-betroffenen Person?
Meine Partnerin heisst, wie oben schon erwähnt, Martina, sie ist von der Krankheit MS seit ihrem 17. Lebensjahr betroffen. Als ich sie kennenlernte, hatte sie also bereits vor 28 Jahren ihre Diagnose erhalten. Sie lebte allein in ihrer Wohnung in Chur, die für sie rollstuhlgängig (Bad, Küche, WC) angepasst wurde.
Wann und in welchem Rahmen wurdest du erstmals mit MS konfrontiert?
Das war in etwa im Alter von 19 Jahren. Ich studierte evangelische Theologie, war viel in christlichen Kreisen unterwegs. Eine Bekannte, die an einer katholischen Fakultät eine Ausbildung zur Gemeindereferentin machte, war plötzlich nicht mehr in der Lage ihr Studium fortzusetzen. Massive Sehstörungen, Gleichgewichts- und Bewegungsstörungen und teils eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit waren Anzeichen für schwere Schübe. Schliesslich musste sie mit fortschreitender Erkrankung und schwerem Verlauf die Ausbildung aufgeben und in ein stationär betreutes Wohnen ziehen. Das war erstmal erschütternd und Anlass, mich näher über diese Krankheit zu informieren.
Gibt es Bereiche in deinem Leben, die klar durch die MS beeinflusst sind?
Hier antworte ich mit einem entschiedenen «Jein». Ich denke, jede Erfahrung beeinflusst uns in irgendeiner Weise. Die Frage ist, wie ich mit diesen Erfahrungen umgehe, es sind ja nicht wirklich Erfahrungen mit der Krankheit, ich habe kein MS. Es sind Erfahrungen mit Menschen, die MS in ganz unterschiedlichen Ausprägungen und Verläufen erleben und wie sie damit umgehen. Das ist manchmal sehr beeindruckend für mich gewesen. Ich habe mich manchmal gefragt, wie würde ich damit umgehen, wie würde eine solche Erkrankung mein Leben verändern? Meinen Alltag, meinen Umgang mit anderen Menschen. Mittlerweile bin ich selbst von chronischen Erkrankungen betroffen, muss einiges in meinem Leben verändern, was bisher für mich gewohnt und selbstverständlich war. So kann ich nachempfinden, dass Einschränkungen erstmal unangenehm und unbequem sind, aber auch neue Fähigkeiten in einem wecken. Wenn man die Situation annimmt, finden sich Wege.
Hat sich eure Beziehung durch die MS verändert? Wie und in welchen Bereichen?
Da ich Martina mit MS im progredienten Verlauf kennenlernte, hat sich unsere Situation nicht verändert. Martina hatte anfangs Zweifel: Was will der «Gesunde» von einer Frau mit MS, die grösstenteils auf einen Rollstuhl angewiesen ist? Ich dagegen sah nicht die MS-Betroffene in ihr, sondern eine tolle, liebens- und begehrenswerte Frau, die mir Schmetterlinge im Bauch machte und mit beiden Beinen im Leben steht.
Unterstützt du im Alltag? Wo, wie und wie lange schon? Welches sind deine «Haupteinsatzgebiete»?
Wir unterstützen uns, wie sich Liebende in ihrer Partnerschaft gegenseitig unterstützen. Martina unterstützte mich mit ihrer kommunikativen und vernetzenden Art in der Schweiz Fuss zu fassen, und ich brachte mich gern helfend in der MS-Regionalgruppe ein und verteilte zu den Grossratswahlen für sie mit Kärtchen in den Briefkästen. Martina ist in vielen Vereinen aktiv gewesen und nun noch vermehrt in der SMSG. Ich finde das so gut, wie sie sich ehrenamtlich engagiert und vieles bewegt. Wir sind auch gemeinsam in der Behindertenkonferenz Graubünden aktiv.
Ich höre aber heraus, dass die Frage auf noch etwas anderes zielt: Ob ich Martina speziell wegen ihrer MS unterstütze? Hier haben wir von Anfang an Klarheit geschaffen, insbesondere Martina legte Wert darauf. Sie sagte «Du bist nicht mein Pfleger oder Assistent, Du bist mein Partner» Genauso sehe ich es, ich brauche Martina als meine Partnerin auf Augenhöhe, nicht um ein Helfersyndrom auszuleben. Für solche Belange gibt es Pflegedienste und Assistenzleistungen. Ich höre manchmal im Austausch mit Angehörigen, dass sie das Gefühl haben, ganz viel für die betroffene Person tun zu müssen und die Verantwortung zu übernehmen. Nein, Martina ist selbst verantwortlich für ihr Leben, sie organisiert und regelt die Hilfeleistungen, die sie benötigt.
Natürlich hebe ich, wenn wir gemeinsam unterwegs sind, mal den Rollstuhl ins Auto. Aber wenn ich in Geschäften das Gefühl habe, jetzt müsste ich den Rollstuhl unterstützend stossen, gibt sie mir mal schnell zu verstehen, dass sie mich lieber an ihrer Seite als hinter sich hat. Umgekehrt nehme ich es gern mal an, ihr einen schweren Gegenstand auf die Beine zu legen und dann zu stossen, es rollt sich eben leichter, als es sich trägt.
Welchen Herausforderungen begegnest du dabei? An welche Grenzen stösst du?
Es gibt vielleicht eine Herausforderung, die uns beide betrifft. Wenn von uns beiden jemand ernsthaft krank ist, dann machen wir es wie alle anderen auch, man kümmert sich umeinander und wir sorgen für uns. Aber es gibt eine Sache, die ist wirklich fies bei MS, nämlich Wärme. Damit meine ich nicht nur die Sommerhitze, die Martina sehr zusetzt, noch schlimmer ist Fieber. Dann vermag sie nicht aufzustehen und braucht etwas Hilfe bei Transfers. Hier war ich gefordert, zu lernen, wie ich in solchen Ausnahmefällen, aufhelfen kann, ohne weh zu tun oder welche Technik es mir erleichtert, klarzukommen.
Kinästhetik war hier das Schlagwort, zwei Mal nahmen wir an einem Angebot der SMSG in Chur teil und konnten einiges lernen. In solchen Situationen ist es vorbei mit Freiheit und Selbstbestimmung, man ist nicht nur körperlich, sondern auch seelisch am Boden. Auf Augenhöhe bleiben heisst für mich als Partner in dem Moment, in Liebe mitzufühlen und zu tragen.
Welche drei erfüllten Wünsche/Dinge würden euren gemeinsamen Alltag verändern?
Ich wünsche mir, dass wir weiterhin vieles gemeinsam unternehmen können. Immer wieder Neues ausprobieren, auch (vermutete) Grenzen überschreiten. So tolle Dinge wie Bergtouren mit Swiss Track, in Kalksandsteinbrüchen Versteinerungen (Ammoniten) suchen und aus den Steinen klopfen oder auch einfach nur in unserem Paradisli auf unserem Campingplatz sein.
Aber auch Akzeptanz und Wertschätzung der Mitmenschen. Es ist beschämend, wenn wir gemeinsam über einen Warenmarkt laufen, uns gemeinsam die Auslagen der Stände anschauen, aber die Verkaufenden mich ansprechen, weil die Frau im Rollstuhl ja «behindert» ist.
Ich würde mich freuen, bräuchte es kein Behindertengleichstellungsgesetz, um endlich Fortschritte in der Barrierefreiheit zu machen und eine inklusive Gesellschaft zu sein. Wenn man alles für die 20 % der Schweizer Bevölkerung mitdenken würde, die in irgendeiner Form beeinträchtigt sind, wäre vieles selbstverständlich und einfacher zu bewältigen.
Holst du dir Hilfe von Dritten? Nutzt du die Angebote der MS-Gesellschaft, welche und warum?
Ich weiss von vielen Angehörigen, die sich erst dann Hilfe holen, wenn schon «Feuer unterm Dach ist». Teilweise, weil die MS-betroffene Person in der Familie die Krankheit nicht akzeptiert, sich nicht outen will, um Stelle und gesellschaftliche Akzeptanz nicht zu verlieren. Dann können sich Angehörige auch nicht öffnen, meinen auch verschwiegen sein zu müssen. Aus meiner Sicht entgeht ihnen vieles. Es ist wichtig sich Hilfe zu holen, bevor man ausbrennt und selbst nicht mehr kann. Gerade die MS-Gesellschaft ist da eine wichtige Anlaufstelle. Wir sind beide Mitglieder und nutzen nicht nur die vielfältigen Informationen auf der Internetseite.
Ich freue mich immer auf Veranstaltungen wie das Mitgliederfest der SMSG, wo neben dem Austausch auch gute Informationen auf den Tafeln und in den Kurzreferaten geboten werden. Zu allen wichtigen Themen finde ich Infomaterialien zum Mitnehmen.
Infoanlässe in den Regionen, Webinare, Kinästhetik-Kurse und vieles mehr, ich staune, wie fundiert und umfassend das Angebot ist. Ich kann Fragen stellen, wenn mir etwas nicht klar ist, und die Sozialberatung, die die MS-Gesellschaft anbietet, erleichtert nicht nur den Betroffenen das Leben mit den kompetenten, auf MS spezialisierten Auskünften und Ratschlägen. Sie hilft damit auch den Angehörigen, denn die Sorgen und Probleme, die das Miteinander überschatten, werden weniger. Ich bin ein absoluter Fan der Schweizerischen MS-Gesellschaft, beindruckend, wie kompetent, unkompliziert sie informiert und hilft. Die Mitarbeitenden strahlen eine herzliche Freundlichkeit aus, die mich jedes Mal berührt. Ein tolles Team, unabhängig und neutral. Es wird geholfen, nicht besserwisserisch, sondern einfühlsam, damit es besser wird.
Wirkt sich das «Ganz nah dran sein» bei dir persönlich aus. Wenn ja, wie? Emotional? Körperlich?
Nähe finde ich persönlich etwas ganz Wichtiges. Obwohl ich mich vom Wesen her eher als stillen, etwas introvertierten und etwas verkopften Menschen sehe, ist es für mich wichtig, einen Menschen zu haben, der ganz nah bei mir ist und von dem ich weiss, dass ich ihm auch ganz nahe bin. Nahe sein kann man nicht allein. Wenn wir als Angehörige nah dran sind, heisst das auch, dass uns jemand ganz nah an sich heranlässt. Welch ein Vertrauen!
Macht dir die Zukunft Sorgen? Was lässt dich optimistisch sein?
Es gibt viele Themen, um die man sich Sorgen machen könnte. Momentan ist meine gesundheitliche Perspektive auch nicht so rosig, wie ich sie gern hätte. Aber andererseits bin ich nicht verpflichtet, mich um alles zu sorgen, ich darf auch mal loslassen und im Hier und Jetzt leben und geniessen. Vergangenheit kann ich nicht ändern, die Zukunft liegt nicht allein in meiner Hand. Die Erfahrung und mein Gottvertrauen lehren mich: Es gibt immer einen Weg und gemeinsam ist es leichter. Das macht mich optimistisch.
Gönnst du dir Zeitfenster für dich allein? Was tust du dann?
Wir beide haben unsere Zeitfenster mit eigenen Aktivitäten oder Zeit, in der wir unseren Hobbies nachgehen. Für meinen Teil lese ich gern, von unterhaltsam bis tiefgründig. Was für Martina die Nähmaschine ist, ist für mich das Tablet oder Smartphone. Oder wir «sesseln» auf unseren Massagesesseln, jeder etwas Eigenes am Lesen. Manchmal lesen wir auch ein gutes Buch, das uns beide interessiert, gemeinsam, als Hörbuch oder ich lese vor, das gibt Anlass zu interessanten, vertieften Gesprächen
Welche Erkenntnisse kannst oder möchtest du anderen Menschen, die «Ganz nah dran» sind, mit auf den Weg geben?
Nah dran sein heisst für mich ein inniges Miteinander, aber nicht im Anderen aufgehen oder bedrängen oder sich aufgeben. Miteinander ist besser als einer für den anderen.
Gibt es etwas, was du abschliessend deiner/deinem MS-Betroffenen sagen möchtest?
Du bist einfach wunderbar, wie Du bist. Auch wenn ich es nicht täglich sage: Ich freue mich auf jeden neuen Tag mit Dir!
Welchen Satz möchtest du öfter hören (von «der Gesellschaft», deinem Umfeld, von deinem MS-Betroffenen oder vielleicht von dir selbst)? Welchen nicht?
«Wann legen wir los? Wir packen das!»
Weniger gern höre ich: «Das kann nichts werden.»
Zum Tag der pflegenden und betreuenden Angehörigen, dem 30. Oktober 2025, starten wir unsere neue Porträt-Serie «Ganz nah dran». Die Zahl pflegender Angehöriger in der Schweiz wird auf 600’000 geschätzt. Darunter auch mehrere Tausend Haushalte, in denen MS-Betroffene von Angehörigen betreut werden – nicht selten rund um die Uhr und oft bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Oder darüber hinaus. Wir stehen Angehörigen auch an allen anderen Tagen des Jahres zur Seite.
Unterstützung für Mitbetroffene, Partner, Familie und Kinder gibt es von den Beratungsteams via MS-Infoline, Email oder Chat. Wir bieten komprimierte Information in Form von MS-Infoblättern (Tipps: «Für andere sorgen, sich selbst nicht vergessen»; «Entlastungsangebote bei MS»). Entlastungsangebote, Kinaesthetics und Veranstaltungen sind weitere wichtige Elemente unseres umfangreichen Angebots für Angehörige.
Immer willkommen: Angehörige, «Ganz nah dran»
- Unsere neue Porträt-Serie gefällt dir?
- Du möchtest eure eigene Geschichte erzählen, um anderen Mut zu machen?
- Du willst anderen Angehörigen zeigen, dass sie nicht alleine sind?
Dann schreib uns eine Mail mit dem Betreff «Ganz nah dran» an: redaktion@multiplesklerose.ch
und wir schicken dir zum Kennenlernen ganz unverbindlich den jeweils aktuellen Portrait-Fragebogen zu. Du kannst dann in aller Ruhe überlegen, ob du mitmachen möchtest.
Liebe Grüsse, deine Redaktion
P.S. Du magst/kannst nicht mitmachen, kennst aber jemanden, der vielleicht gerne dabei wäre? Dann erzähl’ es einfach weiter…