Einfluss von Stress auf Multiple Sklerose

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Einfluss von Stress auf Multiple Sklerose

Haben Sie sich heute schon gestresst gefühlt? Mussten Sie dringend zu einem Termin und die Strassen waren verstopft? Oder steht demnächst eine Prüfung an? Wollten Ihr Chef oder die Kinder ständig etwas von Ihnen? Haben Sie finanzielle Probleme oder beeinträchtigt Sie eine Erkrankung?

Stress begegnet uns täglich und überall. Er ist zu einem Schlagwort unserer modernen Gesellschaft geworden und scheint eine Geissel unseres hoch verdichteten Alltagslebens zu sein. Stress hat eine immense gesellschaftliche Bedeutung. Denn wenn er Überhand nimmt, kann er zu Erkrankungen führen. Dadurch entstehen hohe Kosten, einerseits für das Unternehmen wegen der Fehlzeiten am Arbeitsplatz, andererseits für den Staat aufgrund der medizinischen Behandlungskosten.

Was ist Stress

Der Begriff «Stress» ist in unserem Alltag eher negativ besetzt. Doch was bedeutet dieser Ausdruck eigentlich genau? Man muss zwischen «gutem» Stress (Eustress) und «negativem» Stress (Distress) unterscheiden. Eustress ist die Art von Stress, welche vom Organismus zwar belastend, jedoch durchaus als positiv empfunden werden kann. Eustress befähigt den Organismus zur Lösung bzw. Bewältigung von Problemen.

Distress dagegen wird vom Organismus als unangenehm, bedrohlich oder überfordernd empfunden. Stress wird durch Stressoren ausgelöst. Stressoren werden in der Psychologie als diejenigen Faktoren bezeichnet, die den Organismus in eine erhöhte Alarmbereitschaft (Stress) versetzen. Stressoren können unterschiedliche Ursprünge haben. Sie können von der Person selbst ausgehen, beispielsweise durch eine hohe Selbsterwartung oder innerpsychische Spannungen. Oder sie können äusserliche Ursachen haben, die von der belebten Umwelt ausgehen wie eine hohe Fremderwartung oder Arbeitsbelastung. Aber auch die unbelebte Umwelt kann als Faktor für Stress wirken; Lärm ist hier ein Beispiel.

Ob ein Stressor als unangenehm empfunden wird, hängt von der kognitiven Bewertung eines jeden selbst ab. Stress ist also ein Ungleichgewicht zwischen den inneren und äusseren Anforderungen an die Personen und deren Möglichkeiten, darauf zu reagieren. Bei beiden Arten von Stress schaltet der Körper auf Alarmbereitschaft. Er produziert dann vermehrt Hormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol. Der Blutdruck steigt, die Muskeln werden angespannt – der Muskeltonus nimmt zu. Im Tierreich und bei unseren Vorfahren ist bzw. war das ein Überlebensvorteil in Gefahrensituationen, um bereit für Kampf oder Flucht zu sein. Beim modernen Menschen ist negativer Stress, wenn er im Übermass auftritt und es zu wenige Entspannungsphasen gibt, ein Gesundheitsrisiko.

Stress kann zu leichten und schweren Krankheiten führen. Etliche Studien haben die krankmachenden Effekte von Stresshormonen belegt. Besonders gut untersucht ist der Effekt von emotionalem Stress auf den Ausbruch von Erkältungskrankheiten. Auch gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Herzkreislauferkrankungen und lang anhaltendem, vor allem psychosozialem Stress.

Eine weitere mögliche Folge von lang anhaltendem Stress kann durch den erhöhten Muskeltonus eine Chronifizierung von Rückenschmerzen sein.

Auswirkungen von Stress auf Multiple Sklerose

«Wie wirkt sich Stress eigentlich auf meinen Körper, meine Seele und meine MS-Erkrankung aus?», fragen sich viele Betroffene. Zwischen dem Immunsystem und Stress bzw. den körperlichen Reaktionen auf Stress bestehen vielschichtige Verknüpfungen.

Löst Stress Multiple Sklerose aus?

Der Zusammenhang zwischen Stress und dem Beginn einer Multiplen Sklerose ist in mehreren Studien inklusive einer grossen dänischen Kohortenstudie untersucht worden. In dieser Studie sind über 21’000 Eltern, die ein Kind vor dem 18. Lebensjahr verloren hatten, sei es unerwartet oder durch Krankheit mit «längerer» Vorbereitungszeit, über 17 Jahre beobachtet worden. Das Risiko, eine MS zu entwickeln, erhöhte sich um 56 Prozent bei den betroffenen Eltern. Noch höher war das Risiko bei Eltern, die unerwartet ein Kind verloren hatten. Eine andere Studie hingegen, bei der über 120’000 Pflegefachfrauen über mehr als zehn Jahre beobachtet wurden, konnte keinen Zusammenhang mit schwerem Stress zu Hause oder dem Missbrauch in der Kindheit finden. Eine mögliche Erklärung für das konträre Ergebnis ist möglicherweise, dass der Verlust eines Kindes ein viel stärkerer Stressor ist. Ob MS nun durch chronischen Stress ausgelöst wird, kann aktuell noch nicht abschliessend beantwortet werden.

Schübe und Krankheitsaktivität durch Stress

Andere Studien gingen der Frage nach, ob Stress MS-Schübe auslösen kann. Eine Metaanalyse von 17 Studien, die zwischen 1980 und 2010 durchgeführt wurden, ergab in 15 Studien einen Zusammenhang zwischen Stress und dem Auftreten von Schüben. Weitere Studien konnten diesen Zusammenhang bestätigen. Eine Studie kam sogar zu dem Ergebnis, dass Stress die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Schüben verdoppelt.

Zwei Studien, die den Einfluss von Stress auf die Krankheitsaktivität gemessen an Kontrastmittel aufnehmenden Läsionen im MRI untersucht haben, konnten einen Zusammenhang zwischen neu auftretenden Kontrastmittel aufnehmenden Läsionen und negativ empfundenem Stress feststellen.

Interessanterweise fand sich auch ein Zusammenhang zwischen positivem Stress und einer Verminderung des Risikos neu auftretender Kontrastmittel aufnehmender Läsionen.

Dieser Zusammenhang konnte auch in einer zweiten Studie bestätigt werden. Bei dieser Studie wurde eine stressreduzierende Verhaltenstherapie durchgeführt, die zu einer Reduktion von Stress und Kontrastmittel aufnehmenden Läsionen führte. Insgesamt 121 Patienten mit schubförmiger MS erhielten entweder eine Stressmanagement-Therapie oder wurden auf eine Warteliste (Kontrollgruppe) gesetzt. Die Stressmanagement-Therapie bestand aus 16 Einzelsitzungen verteilt über ein halbes Jahr sowie einer 6-monatigen Nachbeobachtungszeit. Die Patienten der Stressbewältigungsgruppe blieben während der Therapie deutlich häufiger frei von Gehirnläsionen als die Patienten der Kontrollgruppe (76,8% gegenüber 54,7%). Dies wurde mittels einer Kernspin- Tomographie überprüft. Allerdings zeigte sich auch, dass dieser Effekt nicht über die halbjährige Therapiephase hinaus anhielt. Nach Abschluss der Therapie fühlten sich die Patienten wieder ähnlich unter Stress wie zuvor. Dass die Erfolge nicht anhaltend sind, liegt möglicherweise daran, dass die Patienten die erlernten Verhaltensweisen nicht aufrechterhalten können. Eine Stressbewältigungs-Therapie ist sicherlich nicht ausreichend, um ein Fortschreiten der MS-Erkrankung zu verhindern. Sie kann eine Therapie mit krankheitsmodifizierenden Medikamenten (Basisbehandlung) nicht ersetzen.

Zusammenfassend kann man im Moment sagen, dass Stress bei MS zum Auftreten von Schüben und zu einer erhöhten MRI-Aktivität führen kann. Um einen direkten Zusammenhang zwischen dem Auftreten von MS und Stress feststellen zu können, fehlen noch verlässliche Daten. Auch haben wir aktuell keine belastbaren Daten, die auf einen Einfluss von Stress auf den Langzeitverlauf von MS hindeuten.

Stressmanagement

Was kann man nun gegen Stress tun? Wichtig ist zuallererst zu identifizieren, was einen stresst. Dann kann man sich mögliche Lösungsstrategien überlegen.

Hierbei ist es wichtig, Situationen und Menschen positiv zu begegnen. Das heisst, durch eine positive Einstellung können Menschen mit MS häufig selbst darauf einwirken, ob sie sich gestresst fühlen oder nicht. Mit überhöhten Ansprüchen an sich selbst, Versagensängsten oder Perfektionismus setzen sich MS-Betroffene oftmals unter Druck. Daher sollten sie ihre Gedanken und Verhaltensweisen hinterfragen, um zu einer positiveren Sicht auf die Dinge und letztendlich zu einem stressfreieren Leben zu gelangen.

Ein weiterer wichtiger Baustein im Umgang mit Stress ist ein gutes, realistisches Zeitmanagement. Das heisst vor allem, Prioritäten zu setzen und zu überlegen, ob man für bestimmte Dinge überhaupt Zeit aufwenden möchte. «Aktives Leben ja, aber immer Kraft sparen und die Arbeit vereinfachen», kann ein hilfreiches Motto sein.

Sollten die eigenen Ressourcen zur Stressbewältigung nicht ausreichen, kann professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. Dann stehen Optionen wie die erwähnte kognitive Verhaltenstherapie zur Verfügung.

Eine weitere Möglichkeit, die stark auf eine positivere Weltsicht setzt, ist das «Mindfulness-Based Stress Reduction»-Trainingsprogramm zum Abbau von Stress, das von Dr. Jon Kabat-Zinn in den USA entwickelt wurde. Es hat zum Ziel, die Gegenwart bewusst wahrzunehmen, die eigenen Reaktionsweisen auf schwierige Emotionen und Stress zu erkennen und zu beeinflussen. Ausserdem wird eine freundliche und verstehende Haltung sich selbst gegenüber entwickelt.

Ein solches Training kann an verschiedenen Orten durchgeführt werden und sollte mit dem behandelnden Neurologen besprochen werden. Weiter bietet die Multiple Sklerose Gesellschaft diverse Veranstaltungen, unter anderem zu den Themen «Freizeit & Persönlichkeit» oder «Ferien & Entlastung», an.

Zusammenfassend kann Stressmanagement MS-Betroffenen helfen, Stress zu reduzieren und damit die Lebensqualität zu steigern. So kann das Risiko von Folgeerkrankungen reduziert und Multiple Sklerose in Bezug auf das Auftreten von Schüben und neuen MRI-Veränderungen günstig beeinflusst werden.

Text: Lutz Achtnichts, Oberarzt, Neuroimmunologische Ambulanz / Multiple Sklerose Sprechstunde, Neurologische Klinik, Kantonsspital Aarau, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Schweiz. MS-Gesellschaft.