Schritt für Schritt zu neuen Behandlungsstrategien
Fachartikel
Prof. Chan (Inselspital Bern) eröffnete sein Referat mit dem radiologisch isolierten Syndrom (RIS). Ein RIS liegt vor, wenn bei Personen ohne Symptome zufällig MS-typische Läsionen in der Bildgebung entdeckt wurden. «Gemäss der neusten Version der international anerkannten Diagnosekriterien einer MS kann ein RIS unter bestimmten Voraussetzungen bereits ausreichen, um die Diagnose einer MS zu stellen», erklärte Prof. Chan.
Dies bringt jedoch die schwierige Entscheidung mit sich, ob und wann eine Therapie begonnen werden sollte. Besonders heikel ist dies, da unklar bleibt, ob sich die Veränderungen überhaupt weiterentwickeln. Es existieren zwar einige Faktoren, die dabei helfen, die Wahrscheinlichkeit einer Krankheitsprogression besser einzuschätzen, dennoch bleibt eine gewisse Unsicherheit. Daher ist gerade bei Personen mit einem RIS eine individuelle Beratung von grosser Bedeutung.
Schwangerschaft und MS
Untersuchungen haben ergeben, dass eine Schwangerschaft für viele Frauen mit MS Unsicherheit auslöst. «Viele Frauen denken, dass es ihnen aufgrund ihrer MS nicht möglich ist, eine Familie zu gründen», so der Experte. Ausserdem fühlen sich viele Frauen mit MS unzureichend darüber informiert, welche Therapiemöglichkeiten sie wählen sollen, falls sie in näherer Zukunft eine Schwangerschaft planen. «Wir müssen unsere Patientinnen also möglichst frühzeitig und gut beraten», so Prof. Chan.
Mittlerweile wurden auch spezifische Schweizer Therapieempfehlungen zur Familienplanung, Schwangerschaft und Stillzeit bei MS erarbeitet, an denen sich die Fachpersonen orientieren können.
MS bei älteren Menschen
Die Zahl älterer Menschen mit MS nimmt zu. «In den USA sind 10 Prozent, in Italien 18 Prozent der Menschen mit MS über 65 Jahre alt», berichtete Prof. Chan. Die spät einsetzende MS (Late-onset MS, LOMS) schreitet schneller voran als früh diagnostizierte Formen – besonders, wenn Begleiterkrankungen vorliegen.
Zudem sind ältere Menschen empfindlicher gegenüber therapiebedingten Nebenwirkungen. «Dies führt dazu, dass wir bei älteren Betroffenen immer wieder Nutzen und Risiken gegeneinander abwägen und allenfalls darüber nachdenken müssen, eine Therapie zu stoppen», erklärte Prof. Chan.
Gemäss aktueller Untersuchungen ist das Risiko eines erneuten Schubs nach Absetzen einer Therapie unter anderem abhängig von der bisherigen Therapie. So ergab eine Studie, dass das Absetzen von Natalizumab oder Fingolimod bei älteren Menschen mit MS oft zu einem erneuten Krankheitsschub führte. Bei Anti-CD20-Antikörpern wie Ocrelizumab trat dies hingegen nicht auf.
Neue Therapieansätze
Wie Prof. Chan weiter ausführte, liegt der grösste, noch ungedeckte therapeutische Bedarf bei MS darin, das Voranschreiten der Erkrankung zu verlangsamen oder ganz zu stoppen. Aus diesem Grund wird weiterhin nach neuen Therapieoptionen geforscht. Dazu gehören auch die Hemmer der Bruton-Tyrosinkinase (BTK-Hemmer). Diese Substanzen überwinden die Blut-Hirn-Schranke und können somit möglicherweise direkt im zentralen Nervensystem wirken.
In aktuellen klinischen Studien zeigten BTK-Hemmer jedoch unterschiedliche Ergebnisse. So hatte die Substanz Evobrutinib keinen signifikanten Einfluss auf die Schubrate oder das Voranschreiten der Behinderung im Vergleich zum zugelassenen Medikament Teriflunomid. Es verursachte zudem schwere Nebenwirkungen an der Leber.
Der zweite BTK-Hemmer, Tolebrutinib, zeigte allerdings eine moderate Wirksamkeit auf die Behinderungsprogression bei nicht schubförmiger, sekundär progredienter MS, jedoch traten ebenfalls schwerwiegende Nebenwirkungen wie Leberschäden auf. Die Herstellerfirma strebt eine Zulassung dieser Substanz an, weitere Studien zur Optimierung dieser Wirkstoffe sind aber sicherlich notwendig.
CAR-T-Zelltherapie bei MS
Abschliessend ging Prof. Chan noch auf einen komplett neuen Ansatz bei MS ein: dem Einsatz von T-Zellen, die einen sogenannten chimären Antigen-Rezeptor (CAR) tragen. Zur Herstellung der CAR-T-Zellen werden T-Zellen gentechnisch so verändert, dass sie gezielt gegen diejenigen Zellen vorgehen können, die bei MS zur Entzündungsreaktion und zu den Schäden am zentralen Nervensystem beitragen. Die für die Herstellung benötigten T-Zellen stammen dabei von der betroffenen Person selbst.
Der anschliessende Prozess der gentechnischen Veränderung ist sehr aufwändig und kann mehrere Wochen dauern. Auch kann die Behandlung mit zum Teil schweren Nebenwirkungen einhergehen, die sich jedoch in den meisten Fällen gut behandeln lassen. Mittlerweile laufen auch in der Schweiz Studien bei schubförmiger und progredienter Multipler Sklerose
«MS State of the Art Symposium»
Das «MS State of the Art Symposium» ist der bedeutendste Fachkongress zum Thema Multiple Sklerose in der Schweiz und wird von der Schweiz. MS-Gesellschaft und ihrem Medizinisch-wissenschaftlichen Beirat organisiert. 2025 fand das Symposium am 25. Januar im KKL Luzern statt.