Gesichter der MS 2025: Evelyn Stettler

Gesichter der MS

Mein Name ist Evelyn Stettler, ich bin 40 Jahre jung und wohne in Häutligen, einem kleinen Dorf auf dem Land im Kanton Bern. Ich bin aktive Sport-Schützin, reise gerne und liebe es, mit meiner Familie und meinen Freunden zusammen zu sein. Beruflich arbeite ich in einem 100%-Pensum bei einer Krankenkasse im internationalen Sektor.

In welchem Alter hast du die Diagnose MS erhalten? War die Diagnose eindeutig oder gab es vorher andere Vermutungen?
Das war im Juni 2015. Angefangen hat es mit Sensibilitätsstörungen in beiden Beinen. Quasi von einer Stunde auf die andere sind mir die Beine eingeschlafen. Zuerst dachte ich, das geht schon wieder vorbei. Dann wurde es immer schlimmer, so dass ich mich am nächsten Tag auf dem Notfall im Spital in Münsingen vorstellte. Dort schickte man mich jedoch nach sechs Stunden wieder nach Hause. Am nächsten Tag ging ich zum Hausarzt, welcher mir Physiotherapie verordnete und den Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall äusserte. Doch auch die Physiotherapie brachte nichts und mir ging es zunehmend schlechter, so dass ich mich dann zwei Tage später ins Inselspital auf den Notfall begab. Dort war ich dann eine Woche in stationärer Behandlung. Noch am ersten Tag hat man ein MRI der Wirbelsäule und eine Lumbalpunktion gemacht. In derselben Woche hatte ich diverse Tests und auch noch ein MRI vom Schädel, welches dann die Diagnose bestätigte.

Was waren deine ersten Gedanken direkt nach der Diagnose?
Ich war geschockt, als ich vor dem Neurologen sass und die Broschüre mit den Buchstaben «MS» vor mir sah. Neben mir sassen meine Mutter und mein Vater. Wir sassen alle da und hörten nur zu. Dann gingen wir alle in Schockstarre ins Café. Ich denke, dass es für mein Umfeld am Anfang schwieriger war als für mich selbst, da ich froh war, dass es nicht eine andere, schlimmere Diagnose war. Ich wusste, dass «MS» nicht gleich ein «Todesurteil» war. Das war für mich in dem Moment das Wichtigste und sehr erleichternd.

Was waren deine ersten MS-Symptome? Welche bestimmen deinen Alltag heute? Hast du unsichtbare Symptome, die schwer zu erklären sind?
Ich hatte ganz am Anfang einen «Schimmer» vor den Augen, was vermutlich auch schon mit der MS zu tun hatte. Dann die Sensibilitätsstörungen vom Rumpf bis in die Zehenspitze beider Beine, sowie Nervenschmerzen. Mir geht es zum Glück im Alltag sehr gut und die beiden Schübe, welche ich bis jetzt hatte, haben sich auch wieder vollständig zurückgebildet. Oft bin ich jedoch sehr müde und erschöpft. Dies auch, wenn ich regelmässig meine acht Stunden pro Nacht schlafe. Das macht mir am meisten zu schaffen.

Welche Behandlungen kommen bei dir «zum Einsatz»?
Zu Beginn hatte ich Tecfidera Tabletten. Da man aber auch unter Tecfidera neue und aktive Läsionen im MRI feststellte, habe ich mit der Eskalationstherapie begonnen. Mit Tysabri startete ich im Oktober 2016, einmal monatlich an der Infusion im Spital. Seit Sommer 2023 bekomme ich zwei Spritzen Tysabri alle sechs Wochen subkutan, vom Neurologen gespritzt.

War für dich von Anfang an klar, dass du offen mit deiner Diagnose umgehen möchtest? Welche Bedenken hattest du vielleicht, privat oder im beruflichen Bereich?
Ich war von Anfang an authentisch. Seit Krankheitsbeginn hatte ich genau ein Vorstellungsgespräch. Bei diesem Vorstellungsgespräch habe ich offen kommuniziert, was für eine Krankheit ich habe. Den Job habe ich bekommen und arbeite nun bereits seit 7,5 Jahren dort. Ich finde es wichtig, dass Arbeitgeber, Familie und enge Freunde über die Krankheit Bescheid wissen.

Wenn du dich an jeden beliebigen Ort auf der Welt wünschen könntest. Wo wäre das und was würdest du dort unbedingt tun wollen?
Ich würde sehr gerne einmal die Drittwelt-Länder besuchen gehen. Dort, wo es nicht alles im Überfluss gibt, wie bei uns, und die medizinischen Möglichkeiten manchmal begrenzt sind.

Um schwierige Phasen zu meistern? Was hilft dir? Was spornt dich an? Gibt es ein alltägliches Ritual oder einen „Geheimtipp“, der dir besonders hilft, wenn dich die MS körperlich und mental hart fordert?
Seit Beginn der Krankheit war ich immer sehr positiv eingestellt. Ich denke, dass mir das bei der Krankheitsbewältigung sehr hilft. Glücklicherweise hatte ich noch nie eine so harte Zeit, dass ich es nicht mehr schaffte, positiv zu bleiben. Ich habe das Glück, dass ich eine «Stehauf-Frau» bin, oder wie man dem sagen will. Bei schwierigen Phasen spornt es mich an, nicht aufzugeben.

Gibt es Menschen, die dich besonders unterstützen? Gab es Menschen, die sich nach der Diagnose von dir abgewendet haben?
Meine Familie und meine nächsten Freunde waren und sind immer für mich da. Es gab keine negativen Erfahrungen.  

In welchen Situationen fällt es dir schwer, deine Grenzen zu akzeptieren, und wie versuchst du, damit umzugehen?
Lange Reisen, intensiver Ausdauersport und starke körperliche Anstrengungen sind für mich ein Problem. Wenn ich mich einmal zu viel verausgabt habe, brauche ich viel längere Regenerationszeiten als früher. Da ich sehr ungeduldig bin, ist dies manchmal sehr herausfordernd.

Wenn du einen Film über dein Leben drehen würdest: Welches Genre wäre es (Komödie, Drama, Thriller, Doku?) Gäbe es eine Schlüsselszene, um deine MS-Erfahrungen darzustellen?
Ich glaube, ich würde meine Geschichte in eine witzige, humorvolle Komödie umwandeln. So, dass die Zuschauer jede Menge zu lachen hätten. Lachen ist gesund.


Hast du einen Plan für dein weiteres Leben? Oder lässt du alles auf dich zukommen und entscheidest dann situativ?
Seit meiner MS-Diagnose mache ich keine Pläne mehr. Ich geniesse jeden Tag und bin dankbar für alles, was ich mir ermöglichen kann. Ich schiebe die Dinge nicht mehr auf. Wenn ich Lust auf eine Reise habe, dann buche ich mir die Reise, wo ich früher vielleicht zweimal überlegt habe, ob ich es nun tun soll oder nicht. Heute tue ich es einfach.

Welchen Rat würdest du einem Menschen geben, der gerade neu mit MS konfrontiert ist (und sich möglicherweise verloren fühlt)?
MS bedeutet nicht das Ende. MS kann auch eine Chance sein. Auch Menschen die gesund sind, wissen nicht, was morgen ist. Das Leben geht weiter.

Du, deine MS und Mobilität. Wenn du unterwegs bist – mit Bahn, Bus, Auto, zu Fuss, im Flieger – läuft alles rund?
Ich habe ein Auto und fahre jeden Tag damit. Ich liebe es, Auto zu fahren. Längere Spaziergänge können anstrengend werden, aber mit genug Ruhepausen gehts ganz gut. Beim Fliegen gibt es absolut kein Problem.

Wenn du deine MS als Lebewesen beschreiben müsstest: Welche 3 hauptsächlichen Charaktereigenschaften würde dieses Wesen besitzen?
Erziehend, Geduld lehrend, clever.

Was kannst du der MS Positives abgewinnen?
Durch die MS habe ich gelernt, viel mehr auf mich selbst zu hören und auch mal ein «Nein» an andere auszusprechen. Früher habe ich immer zu allem «Ja» gesagt, obwohl dies manchmal ein «Nein» zu mir selber bedeutete. Das kommt heute nicht mehr vor.

Gab es einen Schlüsselmoment, in dem du erkannt hast, dass du stärker bist, als du jemals dachtest?
Als mir mein Umfeld immer wieder sagte, wie gut ich mit der Situation und der Krankheit umgehe. Da wusste ich, dass meine positive Einstellung viel zum Heilungsprozess beigetragen hat.

Welche 3 Eigenschaften magst du an dir? Welche 3 «nerven» eher?  
An mir mag ich meine positive Einstellung, dass ich das Glas immer halb voll und nicht halb leer sehe. Dass ich kämpferisch bin und nicht aufgebe, egal wie hart die Tatsachen manchmal sind. Was ich eher weniger mag, ist meine Ungeduld, dass ich mit mir nicht viel anfangen kann, wenn mir langweilig ist und dass ich manchmal meine Emotionen nicht im Griff habe.

Was ist deine grösste Leidenschaft? Ein Traum, den du dir erfüllen möchtest?
Ich würde gerne einmal ein Sabbatical machen und für ein paar Monate die Welt bereisen.

Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Welche Jahreszeit ist dein Favorit und warum?
Jede Jahreszeit hat für mich etwas Schönes. Im Winter gehe ich gerne Skifahren, im Sommer liebe ich die langen Tage und mag es, die Zeit mehr draussen als drinnen zu verbringen. Der Herbst hat wunderschöne Farben und im Frühling habe ich Geburtstag.

Was macht dir in Bezug auf die MS Angst? Was gibt dir Hoffnung?
Ich habe keine Angst vor der MS, da Angst für mich im Leben ein sehr schlechter Begleiter ist. Hoffnung gibt mir, dass ich bereits seit bald zehn Jahren mit der Diagnose immer noch fast keine Einschränkungen habe - und natürlich die Fortschritte in der Medizin.

Wie oder wo tauschst du dich aus? Welche Communities helfen dir bei Fragen? Zum Beispiel auf social media-Plattformen, in Regionalgruppen, etc.?
Ich tausche mich gar nicht aus. Einzig die Artikel der MS-Gesellschaft lese ich.

Hast du Erwartungen an die Gesellschaft im Umgang mit Menschen, die eine chronische Erkrankung haben? Was muss sich deiner Meinung nach noch ändern? Was würdest du dir wünschen?
Manchmal nervt mich das Unwissen der Menschen über die Krankheit. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenig Menschen eigentlich genau wissen, was MS ist. Das war bei mir, übrigens bis zur Diagnosestellung, nicht anders, also ich mache da niemandem Vorwürfe. Ich bin mir nicht sicher, ob alle Arbeitgeber so verständnisvoll sind wie meiner. Ich habe grosses Glück, dass ich von Anfang an so offen kommunizieren konnte, dass ich diese Krankheit habe und dass man mich trotz der Diagnose angestellt hat. Glücklicherweise kann ich meine Arbeit nach wie vor in einem 100%-Pensum absolut problemlos ausführen.

Danke, dass du ein «Gesicht der MS» geworden bist. Was hat dich motiviert? Hattest du irgendwelche Bedenken?
Sehr gerne. Da es mir mit der Krankheit nach wie vor sehr gut geht, war ich motiviert, meinen positiven MS-Verlauf zu erzählen.

Welche Beziehung hast du zur Schweiz. MS-Gesellschaft? Nimmst du Beratung, Angebote oder Dienstleistungen in Anspruch? Was könnte die MS-Gesellschaft besser machen (Beratung, Betreuung, Infos)?
Ich lese die Broschüren und Berichte der MS-Gesellschaft, habe aber noch nie eine Beratung oder ein anderes Angebot in Anspruch genommen.


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