Von MS mitbetroffen: Die psychische Gesundheit von Angehörigen im Fokus
FORTE MagazinFrau Eisler, welche Herausforderungen im psychischen Bereich schildern Ihnen Patientinnen und Patienten, die chronisch kranke Angehörige begleiten?
Eine chronische Erkrankung wie die Multiple Sklerose wird oft als ungebetener Gast beschrieben, der einfach immer mit dabei ist. Alles, was in einer Beziehung Stabilität gab, kann durch die Diagnose erschüttert werden und nimmt die Unbeschwertheit. Lebensentwürfe und Vorstellungen müssen neu gedacht und die Krankheit in die Lebensplanung integriert werden. Dies kann einiges auslösen wie Zukunfts- und Existenzängste, Wut, Ohnmacht oder Schuldgefühle. «Darf ich meinem Hobby noch nachgehen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben?» Auch Schamgefühle können auftreten: «Sieht man meinem Partner die Krankheit an und wie wirkt dies nach aussen?» Diese und weitere Punkte können Angehörige psychisch belasten.
Sie haben Schuldgefühle angesprochen, was kann im Umgang damit hilfreich sein?
Es ist wichtig zu wissen, dass Schuldgefühle absolut menschlich sind. Zu versuchen, diese Gefühle aus- und anzusprechen, sie zu akzeptieren, kann im Umgang damit helfen. Sei es mit der Partnerin, dem Partner oder im Austausch mit Menschen, die sich einer ähnlichen Situation befinden.
Können sich diese Herausforderungen im Laufe der Zeit verändern?
Ja, die Herausforderungen können sich besonders in Phasen, in denen sich die Krankheit verschlechtert, verändern. Sowohl Betroffene als auch Angehörige sind jedes Mal gefordert, einen Umgang damit zu lernen. Treten grössere Einschränkungen auf, kann dies auch bedeuten, in einer Beziehung neue Vereinbarungen zu treffen und neue Rollen zu definieren. Wie viel Hilfe wird gewünscht? Wie viel Selbstständigkeit ist möglich? Bei einer chronischen Erkrankung ist kein Abschluss der Verarbeitung möglich. Es kann ruhigere Phasen geben, es bleibt jedoch zentral, sich laufend neuen Gegebenheiten zu stellen, Rückschläge gemeinsam zu verarbeiten und zu überlegen, wie es weitergeht.
Kann sich die Dynamik in Beziehungen zwischen Betroffenen und unterstützenden Angehörigen im Verlauf der Erkrankung verändern?
Veränderungen, die in jeder Beziehung vorkommen, werden durch eine Krankheit verstärkt und können die Dynamik verändern. So auch die Rollen- und Aufgabenverteilung: Vielleicht hat der eine Partner früher mehr körperlich anstrengende Aufgaben übernommen, der andere die Kopfarbeit.
Ein oft vernachlässigtes Thema ist die Würde, die eigene und die des Gegenübers. Es geht darum zu lernen, die Grenzen des anderen und die eigenen zu respektieren. Zum Beispiel in der Pflege. Wie weit möchte ich gepflegt werden, wo respektiert man beidseitig die Grenzen? Das erfordert ein ständiges Aushandeln und die Bereitschaft, auch Hilfe von aussen zuzulassen. Generell sind in Beziehungen eine offene Kommunikation und das Zuhören unerlässlich, auch wenn es vielleicht schwierig ist. Was darf und muss ich ansprechen? Was hält uns zusammen? Was mögen wir aneinander? Es geht darum, die gemeinsamen Ressourcen in der Beziehung zu nutzen und zu pflegen.
Für eine gelingende Beziehung sind beide verantwortlich. Wo hört die Verantwortung des einen auf und wo beginnt die der anderen Person?
Genau, für das Gelingen einer Beziehung sind beide Seiten verantwortlich. Zudem haben beide das Recht auf den eigenen Willen. Eine «ungefragte» Unterstützung, sei es nur ein gutgemeinter Tipp oder stellvertretend für eine Person zu antworten, kann als Übergriff empfunden werden. Entsprechend ist es wichtig zu lernen, die eigenen Bedürfnisse zu formulieren und zu sagen, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Aber dem Gegenüber auch Raum zu lassen und auf dessen Aussagen zu vertrauen und diese nicht immerwährend zu hinterfragen.
Inwiefern führt die Unterstützung eines MS-betroffenen Angehörigen zu einem Gefühl der Überforderung oder Erschöpfung?
Als gesunde Person hat man oft die Vorstellung «ich habe zu funktionieren» und man bürdet sich die ganze Last auf. Dies gilt es zu hinterfragen und es ist wichtig zu erkennen, was man leisten kann, ohne selbst krank zu werden. Eine Erschöpfung oder Überforderung kann auch durch regelmässige Enttäuschungen auftreten, wenn zum Beispiel geplante gemeinsame Aktivitäten unvorhergesehen nicht zu Stande kommen. Dabei ist es wichtig nicht aufzugeben, gemeinsam weiterzumachen und die eigenen Gefühle auszusprechen. Statt aufeinander wütend zu sein, sollte man gemeinsam die Krankheit als Ursache sehen und versuchen zu akzeptieren, dass sie unberechenbar ist.
Was sind mögliche Anzeichen und wann sollte man sich spätestens Unterstützung holen?
Ein erstes Zeichen von Überforderung, das den wenigsten sofort auffällt, können sarkastische Bemerkungen gegenüber dem Betroffenen sein. Spitze Kommentare direkt oder hinter seinem Rücken, die es vorher nicht gab. Weitere Anzeichen sind schnelle Gereiztheit, Schlafstörungen oder kreisende Gedanken. Wenn keine Zeit mehr für die Beziehung oder für gemeinsame Aktivitäten bleibt, etwa ein gemeinsames Frühstück, und wenn emotionale Abstumpfung und Ungeduld auftreten, sollte man dies ernst nehmen. Meine Empfehlung ist, sich so früh wie möglich Hilfe zu holen.
Aus Ihrer Erfahrung, was kann unterstützenden Angehörigen helfen, ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu erkennen und zu kommunizieren?
Es ist wichtig vorauszuplanen und sich darüber klarzuwerden, welche Unterstützung man zukünftig möchte. Man hat ja schon vor der Krankheit eine Beziehung geführt und sollte sich vor diesem neuen Hintergrund an früher erinnern. Was habe ich gerne gemacht und was sind meine Kompetenzen? Diese gilt es bestmöglich zu reaktivieren. Gespräche mit Freunden, Familie und Fachpersonen können helfen, Neues darf und soll ausprobiert werden. In einer Partnerschaft sind die Rollen und Muster nicht festgefahren, sondern beweglich wie die Beziehung selbst. Es kann auch helfen, sich die Sicht von aussen einholen. Oder mal Nein zu sagen und auch das Nein des Gegenübers zu akzeptieren.
Was können betroffene Paare üben, damit beide mit der Situation klarkommen?
Eine Übung für Paare mit einer chronisch kranken Person kann zum Beispiel sein, bewusst würdig von seinem Gegenüber zu sprechen und auf die Wortwahl zu achten. Statt zu sagen, «du schränkst mich ein», besser «die Krankheit schränkt uns ein». Hilfreich ist zudem, die Klärung von Bedürfnissen, Gefühle auszusprechen und mitzuteilen, wenn man etwas braucht. Auch gemeinsam zu weinen und zu lachen kann helfen. Eine weitere Methode ist ein festes, regelmässiges Zeitfenster zu definieren, in welchem die Krankheit Thema sein darf – quasi eine «MS-Sitzung». So nimmt die Krankheit weniger Raum im übrigen Alltag ein.
Was können pflegende Angehörige tun, um wieder Kraft zu tanken?
Es klingt vielleicht profan: das Geniessen nicht vergessen, sei es gemeinsam oder während einer Auszeit für sich selbst. Sich auf das Positive besinnen, auf das, was Spass macht, und diese Aktivitäten einplanen. Dies können auch kleine Dinge wie ein Spaziergang oder ein Buch lesen sein. Oder zur Arbeit zu gehen kann trotz der Anstrengung erholsam sein und Abwechslung in den Alltag bringen. Abschliessend ist es wichtig, herauszufinden und zu erkennen, was einem guttut und positive Energie schenkt. Dies fliesst schliesslich wieder in die Beziehung mit ein.
Andrea Eisler, lic. phil., ist Fachpsychologin für Psychotherapie FSP sowie MS-zertifizierte Psychotherapeutin in Basel.