Neuropsychologie

Die Neuropsychologie beschäftigt sich mit den verschiedenen Funktionen des Gehirns.

Kinder sind keine kleinen Erwachsene. Ein Gehirn, das sich noch in der Entwicklung befindet, reagiert wesentlich sensibler und störungsanfälliger auf Verletzungen oder Erkrankungen.

Pädiatrische Neuropsychologie

Im Kindes- und Jugendalter ist es besonders wichtig, die Entwicklung und Ausbildung der Funktionen des Gehirns gut zu kennen.

Die pädiatrische Neuropsychologie beschäftigt sich mit den verschiedenen Funktionen des Gehirns, also beispielsweise Aufmerksamkeit, Lernen, Gedächtnis und logisches Denken. Die werden genau angeschaut und danach ein Profil von Stärken und Schwächen erstellt.

Im Kindes- und Jugendalter ist es besonders wichtig, dass man die Entwicklung und Ausbildung der Funktionen gut kennt, denn das Gehirn entwickelt sich und reift bis zum Alter von 20 Jahren und sogar noch länger. Deshalb gibt es ein Spezialgebiet: Die pädiatrische Neuropsychologie. Sie konzentriert sich darauf, Kinder und Jugendliche detailliert zu untersuchen und gleichzeitig zu unterstützen.

Wenn eine chronische Hirnerkrankung wie die MS auf ein sich noch in der Entwicklung befindendes Gehirn trifft, kann die Ausbildung von Hirnfunktionen verändert werden. Man kann auch sagen: Der normale «Fahrplan» der Entwicklung und Reifung wird unterbrochen oder verändert. Das kann bedeuten, dass ein Kind oder Jugendlicher in gewissen Bereichen seinen gleichalten Kollegen hinterherhinkt oder Fähigkeiten sich nur schwer entwickeln, weil die MS Entwicklungen in wichtigen Bereichen des Hirnes «bremst».

Die Chance des kindlichen Gehirnes ist eigentlich, dass noch nicht alle Funktionen definitiv festgelegt sind. Dies bedeutet, dass bei Verletzungen des Hirnes (wie beispielsweise einem Hirnschlag oder Schädelhirntrauma) andere Teile bis zu einem gewissen Grad die entsprechenden Funktionen entwickeln/übernehmen können. Dieses «Aushelfen» nennt man auch Plastizität. Ob und wie gut diese Plastizität wirkt, hängt vom Alter, vom Ausmass und dem genauen Ort einer Verletzung ab. Und es gibt ein Problem: Da die MS eben keine Erkrankung der frühen Kindheit darstellt und gleichzeitig die Ausreifung zweier sehr wichtiger Dinge (weisse Substanz und neuronale Netzwerke) negativ beeinflussen kann, spielt die Plastizität leider keine grosse Rolle. An ihrer Stelle tritt die sogenannte Vulnerabilität in den Vordergrund. Vulnerabilität heisst «erhöhte Verletzlichkeit». Das bedeutet sehr vereinfacht, dass Funktionen, die zum Zeitpunkt der Erkrankung noch nicht entwickelt waren, sich möglicherweise nur verlangsamt entwickeln oder mehr Mühe haben, sich zu entwickeln.

Text: Barbara Kohler, M Sc, Universitätsklinik Inselspital Bern


Die neuropsychologische Untersuchung

Nachfolgend wird beschrieben, in welchen einzelnen Bereichen MS-betroffene Kinder und Jugendliche Schwierigkeiten haben.

Viele MS-Betroffene haben Schwierigkeiten mit der Verarbeitungsgeschwindigkeit, der kurzfristigen Merkfähigkeit und leiden insbesondere an einer erhöhten Ermüdbarkeit, die auch Fatigue genannt wird. Nachfolgend werden die einzelnen Bereiche kurz beschrieben.

Verarbeitungsgeschwindigkeit

Hier geht es um das Tempo, in dem wir Dinge verarbeiten und wiedergeben können. Bei MS-Betroffenen ist diese Teilleistung aufgrund der entzündlichen Aktivität im Gehirn früh verringert. Dies lässt sich dadurch erklären, dass das Gehirn «andere» Wege suchen und finden muss, als Ersatz für die entzündeten. Es geht praktisch «Umwege». Feinmotorik oder komplexe Verarbeitung von Informationen brauchen deshalb mehr Kapazitäten und dauern entsprechend länger.

Kurzfristige Merkfähigkeit

Das Kurzzeitgedächtnis steht für die Merkfähigkeit von wenigen Sekunden, also z. B. eine Telefonnummer im Gedächtnis behalten, eintippen und wieder vergessen. Das ist eine sehr wichtige Funktion, um im Alltag präzise und effizient zu arbeiten. Die Merkfähigkeit kann sehr rasch aufgrund von verschiedenen Faktoren eingeschränkt sein: Dazu gehören Müdigkeit, Nebenwirkungen von Medikamenten, schlechter Nachtschlaf oder auch die höhere Anstrengung, die MS-Betroffene für dieselben Leistungen erbringen müssen.

Fatigue

Fatigue ist der Fachbegriff für eine erhöhte Ermüdbarkeit oder Belastbarkeitsminderung, die bei Kindern und Jugendlichen mit MS häufig anzutreffen ist. Die Fatigue hat einen direkten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit im Alltag und die Lebensqualität. Warum? Um dieselben Leistungen wie ihre gleichaltrigen Kollegen zu erbringen, müssen Kinder und Jugendliche mit MS klar mehr Energie aufbringen. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass sie rascher ermüden und somit die Balance zwischen Schule und Freizeit zur Herausforderung wird. Kommt dazu, dass man die Fatigue nicht einfach mit einem Medikament lindern kann. Aber mit regelmässigem Ausdauersport, einem angepassten Tagespensum sowie einem guten Pausenmanagement kann man ihr ganz gut entgegenwirken.

Text: Barbara Kohler, M Sc, Universitätsklinik Inselspital Bern


Kognitive Probleme

Fachpersonen versuchen in Gesprächen herauszufinden, wie es den Kindern und Jugendlichen geht und welche Fragen bestehen.

Schritt eins bei einer Untersuchung in der Neuropsychologie: Fachpersonen reden zunächst mit der Familie und dem Kind, um ein Gefühl dafür zu bekommen, zu hören, wie es dem Kind geht und welche Fragen bestehen. Nach Möglichkeit wird auch mit den Lehrpersonen Kontakt aufgenommen, um zu erfahren, wie es in der Schule läuft.

Im Anschluss daran wird an einem bis mehreren Terminen anhand von Spielen, Denkrätseln und Computertests festgestellt, in welchen Bereichen ein Kind sehr gut ist und wo es Schwierigkeiten gibt. Man muss keine Angst haben: Die Aufgaben werden immer gut erklärt und man darf jederzeit Fragen stellen.

Nachdem die Neuropsychologin die Tests ausgewertet und alle Informationen zusammengetragen hat, findet ein sogenanntes Befundgespräch statt. Übersetzt: Es geht um die Ergebnisse der Tests, was bei der Untersuchung herauskam und wo und wie allenfalls Unterstützung organisiert werden kann. 

Was bringt die Untersuchung?

Sie ist eine umfassende Standortbestimmung, die Stärken und Schwächen aufzeigt und versucht, ein optimales Umfeld zu schaffen, um die Stärken gut einzusetzen und die Schwächen zu unterstützen. Aus der Untersuchung können auch Therapiemassnahmen abgeleitet werden, oder sie eröffnet die Chance auf einen «Nachteilsausgleich». Hier geht es um Gerechtigkeit: Nachteile, die aufgrund von einer Erkrankung wie MS entstehen, sollen nicht in die Beurteilung schulischer Fähigkeiten einfliessen.

Wieso eine jährliche Untersuchung?

Ein Jahr ist ein sinnvoller Zeitraum. Im Kindes- und Jugendalter entwickelt sich das Gehirn stetig weiter, und wir lernen immer mehr dazu. Mit den regelmässigen Untersuchungen können wir die Entwicklung standardisiert erfassen und über einen längeren Zeitraum beobachten. Wie schon erwähnt, kann sich aufgrund der MS die Leistungsfähigkeit des Gehirns früh verändern. Deshalb wollen wir Warnzeichen frühzeitig, das heisst, bevor der Patient im Alltag deswegen Probleme bekommt, erkennen, um die notwendigen Anpassungen in den Therapie- und Fördermassnahmen rechtzeitig in die Wege zu leiten. Da Kinder und Jugendliche mit MS früh im Krankheitsverlauf kognitive Defizite haben können (also gewisse Einschränkungen) , dient die jährliche neuropsychologische Testung - wie das MRI auch – auch als Therapiekontrolle. Um zu schauen, ob die Massnahmen helfen. 

Wer zahlt die Untersuchung?

Wenn der Kinderarzt/Hausarzt/Facharzt die betroffenen Kinder und Jugendlichen überweist, sind die Kosten durch die Grundversicherung gedeckt.

Text: Barbara Kohler, M Sc, Universitätsklinik Inselspital Bern