
MS im Kindes- und Jugendalter ist keine grundlegend andere Krankheit als im Erwachsenenalter. Man geht davon aus, dass dieselben Mechanismen dahinterstecken (auch wenn diese bis jetzt noch nicht vollständig verstanden werden) und auch die Therapieansätze sind vergleichbar. Dennoch gibt es auch klare Unterschiede mit Blick auf Häufigkeit, klinischer Präsentation und Verlauf, die Einfluss auf die Betreuung dieser jungen Patienten haben.
Der absolut zentrale und wichtigste Punkt bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit MS ist die Tatsache, dass die Krankheit ein Gehirn angreift, das sich noch in der Entwicklung befindet. Konkret heisst das, dass chronische Entzündungsprozesse in einem Gehirn ablaufen, das noch nicht vollständig ausgereift ist. Nach heutigem Wissensstand ist das die Hauptursache für die frühen kognitiven Beeinträchtigungen und die Hirnvolumenminderung bei MS im Kindes- und Jugendalter ist (siehe unten).
Wo liegen die Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen mit MS?
Mit einer Häufigkeit von 1-3 Erkrankungen unter 100'000 Menschen gehört MS im Kindes- und Jugendalter zu den wirklich seltenen Krankheiten. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Mehrheit der Kinderärzte nicht automatisch auf einen grossen Erfahrungsschatz aufbauen kann, wie dies bei anderen Erkrankungen im Kindesalter der Fall ist. Daher braucht es für die professionelle Betreuung zusätzlich zum Kinderarzt Spezialisten, die sich mit seltenen Erkrankungen des sich entwickelnden Gehirns - konkret mit der MS – auskennen. Bei uns sind dies die Kinderneurologen oder Neuropädiaterinnen. Wenn eine Krankheit selten vorkommt, hat dies auch Einfluss auf die wissenschaftlichen Möglichkeiten. Die klinische Forschung ist wesentlich, um MS im Kindes- und Jugendalter besser verstehen und die Therapie dieser Patienten optimieren zu können. Um eine methodologisch solide Forschung zu ermöglichen, braucht es ein grosses Netzwerk und Zusammenarbeit, damit aussagekräftige Zahlen zusammenkommen. Hier leisten Register einen wichtigen Beitrag.
Schweizer Register für entzündliche Gehirnerkrankungen im Kindesalter
Kinder und Jugendliche mit MS haben mehr Schübe und eine raschere Zunahme der entzündlichen Hirnläsionen. Betrachtet man die ersten paar Jahre nach der Diagnosestellung, haben Kinder und Jugendliche zwei- bis dreimal mehr Schübe als Erwachsene mit MS. Ebenso können in den regelmässig durchgeführten MRI-Kontrollen im gleichen Zeitintervall eine grössere Anzahl neuer Läsionen beobachtet werden. Diese finden sich vor allem in der hinteren Schädelgrube. Kleinere Kinder (in der Regel vor der Pubertät) haben zusätzlich sehr grosse, teilweise unscharf begrenzte Läsionen. Wieso das so ist, ist nicht restlos geklärt. Man vermutet, dass das mit der Reife, beziehungsweise mit der Aktivität des Immunsystems zusammenhängt. Kinder und Jugendliche mit MS haben ein exzellentes Erholungspotential, das heisst die grosse Mehrheit erholt sich vollständig von den ersten Schüben. Dies ist für den Patienten in der Akutphase gut, gleichzeitig aber auch tückisch, weil man sich der Tragweite der Erkrankung weniger bewusst ist - und deshalb unter Umständen die eigentlich zwingende Therapienotwendigkeit in Frage gestellt wird.
Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen mit MS zeigen sehr früh, das heisst in den ersten drei Jahren nach Diagnosestellung, alltagsrelevante kognitive Beeinträchtigungen. Diese frühen kognitiven Defizite sind der markanteste Unterschied zu Erwachsenen mit MS. Der chronische Entzündungsprozess betrifft ein sich noch entwickelndes und daher äusserst verwundbares Gehirn. Dies führt zu vermindertem Hirnwachstum (verglichen mit Gleichaltrigen), veränderter Myelinisierung (Umwicklung der Nervenbahnen) und geringerer Reifung neuronaler Netzwerke. Am häufigsten ist die Verarbeitungsgeschwindigkeit betroffen. Dies bedeutet, dass die Verarbeitung von Informationen länger braucht als bei Gesunden. In komplexen Situationen wie Schulprüfungen führt dies zu Schwierigkeiten, die vor allem bei Jugendlichen sehr frustrierend sein können. Allerdings kann man mit kleinen Anpassungen (zum Beispiel mehr Zeit für Prüfungen oder Reduktion der Prüfungsaufgaben) diese Hürden gut beheben und den Betroffenen helfen, ihr Potential auszuschöpfen.
Wenn die MS sehr junge Kinder betrifft, können zusätzlich Schwierigkeiten beim Sprechen (Wortfindung, Sprachflüssigkeit) auftreten. Die kognitiven Beeinträchtigungen sind aus verschiedenen Gründen eine Herausforderung, die aktiv angegangen und angesprochen werden muss. Da man kognitive Probleme «von aussen» nicht sieht, vergeht oftmals wertvolle Zeit, bevor Betroffene die nötige und ihnen zustehende Unterstützung erhalten. Nicht selten erleben sie zuerst einmal Unverständnis, das darauf beruht, dass MS im Kindes- und Jugendalter zu wenig bekannt ist. Umso wichtiger ist es, das Verständnis der Bevölkerung für dieses Krankheitsbild zu schaffen und zu schärfen. Die Patienten befinden sich oftmals in den Schlüsseljahren ihrer Schulkarriere, die Berufswahl und der Schritt in die Selbständigkeit stehen an. Um die jungen Patienten in dieser entscheidenden Phase bestmöglich zu betreuen und zu begleiten, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Patienten, Ärztin, Neuropsychologin und der Schule ultimativ wichtig.