MS bei Kindern

Was bedeutet die Diagnose MS im Kindes- und Jugendalter?

MS im Kindes- und Jugendalter ist keine grundlegend andere Krankheit als im Erwachsenenalter. Man geht davon aus, dass dieselben Mechanismen dahinterstecken (auch wenn diese bis jetzt noch nicht vollständig verstanden werden).

Symptome & Diagnose

Trotz exzellenten therapeutischen Möglichkeiten macht die Diagnose Multiple Sklerose Angst und löst viele Fragen und Unsicherheiten aus.

MS im Kindes- und Jugendalter ist keine grundlegend andere Krankheit als im Erwachsenenalter. Dennoch gibt es eindeutige Unterschiede zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit MS, insbesondere was Häufigkeit und Verlauf angeht.

Wie bei Erwachsenen beruht die Diagnose MS im Kindes- und Jugendalter auf dem Nachweis der zeitlichen und räumlichen Streuung von Entzündungsherden. Im Prinzip gilt es aufzuzeigen, dass es sich um eine chronisch entzündliche Hirnerkrankung handelt, die verschiedene Hirnareale (räumliche Ausbreitung der Entzündungsherde) betrifft und mehrmals unabhängig voneinander auftritt (zeitliches Auftreten der Entzündungsherde). Mit der letzten Revision der McDonald Kriterien – dabei handelt es sich um eine standardisierte Diagnosestellung einer Multiplen Sklerose - die zur aktuellen Version der 2017 McDonald Kriterien geführt hat, können diese nun ohne Alterseinschränkung auch im Kindes- und Jugendalter zur MS Diagnose herangezogen werden.

MS im Zusammenhang mit anderen entzündlichen Hirnerkrankungen des Kindes- und Jugendalters

Das Erlangen von Wissen zur Häufigkeit und Verteilung von entzündlichen Erkrankungen des Nervensystems im Kindes- und Jugendalter ist von grosser Bedeutung. Sowohl Häufigkeit wie auch die Verteilung unterscheiden sich vom Erwachsenenalter. Im Kindes- und Jugendalter sind entzündliche Erkrankungen des Nervensystems äusserst selten. Es gibt dabei einerseits demyelinisierende Hirnerkrankungen. Darunter wird eine Schädigung des Nervensystems verstanden, bei der die Entzündung das sogenannte Myelin, die Isolationshülle der Nervenbahnen, direkt angreift. Die Nerven können so ihre normale Funktion nicht mehr ausüben. Daneben kommen auch antikörpervermittelte entzündliche Hirnerkrankungen vor. Die MS gehört zur Gruppe der demyelinisierenden entzündlichen Hirnerkrankungen. Dank der Daten aus einem grossen kanadischen Register ist bekannt, dass eine erstmalige demyelinisierende Attacke bei Kindern ungefähr mit einer Häufigkeit von 1:100'000 auftritt. Die betroffenen jungen Patienten leiden unter einer Sehnerven- oder Rückenmarksentzündung oder diffusen Entzündungen, die verschiedene Hirnareale betreffen. Bei rund einem Viertel dieser Patienten wird im Rahmen der Abklärungen eine MS diagnostiziert. Bei den übrigen drei Vierteln steht die entzündliche Reaktion meist im Zusammenhang mit einem Infekt, entweder direkt durch einen Keim verursacht oder – häufiger – als sogenannte parainfektiöse Reaktion. Dies bedeutet, dass die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, die eine Sehnerven- oder Rückenmarksentzündung im Kindesalter erleiden, keine MS haben.

Symptome bei einem ersten MS Schub im Kindes- und Jugendalter

Die Symptome, die diese Kinder und Jugendlichen zeigen, sind abhängig vom Ort der Entzündung im Gehirn und müssen über mindestens 24 Stunden kontinuierlich vorhanden sein. Bei jüngeren Kindern sind oftmals mehrere Systeme betroffen. Sie zeigen mehrere unterschiedliche Symptome, die verschiedenen Hirnarealen zugeordnet werden können. In diesem Fall wird von einem polyfokalen Schub gesprochen. Das Gegenteil ist ein klassischer monofokaler Schub bei einer Sehnervenentzündung. Hier ist die Einschränkung auf die Sehfähigkeit begrenzt. Im Fall einer Rückenmarksentzündung, in der Fachsprache transverse Myelitis genannt, können neben Muskelschwäche und Sensibilitätsstörungen auch die Blasen- und (seltener) Enddarmfunktion eingeschränkt sein. Störungen der Ausscheidungsfunktion müssen bei einer Untersuchung meistens aktiv erfragt werden. Für Kinder und Jugendliche ist es oftmals peinlich, spontan davon zu erzählen. Eine weitere Besonderheit im Kindes- und Jugendalter stellt die grössere Anzahl der MS Läsionen (Verletzungen) im Kleinhirn und Hirnstamm dar. Diese Kinder haben Gleichgewichtsprobleme, Schwindel und Störungen der Augenbewegungen. Letzteres äussert sich durch Doppelbilder, weil die Augenbewegungen nicht mehr koordiniert ausgeführt werden können. Neue epileptische Anfälle, ausgeprägte psychiatrische Symptome und Verhaltensstörungen sind für eine MS im Kindes- und Jugendalter nicht typisch und lassen primär an eine antikörpervermittelte Hirnerkrankung denken.

Untersuchungen im Rahmen einer MS Diagnose

Bei der Diagnosestellung einer Multiplen Sklerose werden zuerst alle möglichen anderen entzündlichen, infektiösen oder metabolischen, d. h. stoffwechselbedingten Erkrankungen ausgeschlossen. Schrittweise werden alle anderen möglichen Erkrankungen mit denselben Symptomen ausgeschlossen, bis nur noch die sogenannte Ausschlussdiagnose MS übrigbleibt. Zusätzlich zur klinischen Untersuchung braucht es eine Magnetresonanzuntersuchung (bildgebendes Verfahren) des Kopfes, eine Blutuntersuchung und eine Lumbalpunktion (Entnahme und Untersuchung von Nervenwasser). Gerade die Lumbalpunktion macht oftmals Angst. Für eine saubere Diagnostik sollte jedoch daran festgehalten, bzw. nur bei eindeutigen Kontraindikationen darauf verzichtet werden. Mit einer verständlichen Information und Aufklärung über den Ablauf der Untersuchung, mit dem Einsatz von «Hilfsmitteln» wie Lachgas und/oder speziellen «Zauberpflastern» und einer ruhigen Atmosphäre kann diese Untersuchung gut überstanden werden. Ein ganz wichtiger Punkt und eine grosse Hilfe ist die Unterstützung der Eltern.

Bedeutung einer MS Diagnose im Kindes- und Jugendalter

Bis heute ist Multiple Sklerose nicht heilbar. Die Diagnose MS begleitet Betroffene ein Leben lang und erfordert eine jahrelange immunmodulierende bzw. immunsuppressive Therapie. Das heisst, dass das körpereigene Abwehrsystem entweder verändert oder unterdrückt wird. Trotz exzellenten therapeutischen Möglichkeiten macht die Diagnose Multiple Sklerose Angst und löst viele Fragen und Unsicherheiten aus. Sie betrifft auch die Familien und Angehörigen der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Die Betreuung und Begleitung dieser jungen von MS betroffenen Menschen schliesst immer die ganze Familie mit ein. Es gilt, die Kinder und Jugendlichen in ihrem Autonomiebestreben und ihrer Unabhängigkeit zu fördern und gleichzeitig die Eltern mit ihren Sorgen und Fragen um die Zukunft und Therapie zu unterstützen und zu beraten.

Text: PD Dr. med. Sandra Bigi, MD MSc, Universitätsklinik Inselspital Bern


Therapien

Aktuell werden in der internationalen wissenschaftlichen Literatur zwei Therapieansätze diskutiert.

Früher dachte man, dass MS im Kindes- und Jugendalter weniger schlimm ist als im Erwachsenenalter, vor allem, weil sich die jungen Patienten besser von den Schüben erholen. Aktuelle Forschungsergebnisse belegen: Ja, die Erholung von den ersten Schüben ist tatsächlich exzellent, dies ist aber nicht mit einem besseren Verlauf gleichzusetzen. Das Gegenteil ist der Fall.

MS im Kindes- und Jugendalter ist gekennzeichnet durch eine hohe Schubfrequenz, rasche Zunahme der entzündlichen Hirnläsionen, betrifft ein sich entwickelndes Gehirn und führt früh zu kognitiven Beeinträchtigungen und Hirnatrophie. Alles Dinge, die den Alltag negativ beeinflussen können. Es gibt daher keinen Grund, Kindern und Jugendlichen mit MS eine Therapie vorzuenthalten.

Schub- und Langzeittherapie

Auch im Kindes- und Jugendalter unterscheidet man zwischen der akuten Schubtherapie und einer Langzeittherapie. Letztere beeinflusst das körpereigene Abwehrsystem (das Immunsystem) über einen längeren Zeitraum, entweder durch medikamentöse Veränderung (Immunmodulation) oder Unterdrückung einzelner Bestandteile des Immunsystems (Immunsuppression).

Die Schubtherapie hat zwei Ziele: Die Verkürzung der Schubdauer und die raschere Erholung von den Schubsymptomen. Schübe werden wie bei den Erwachsenen auch mit hochdosiertem Cortison über eine Infusion behandelt. Die Schweizer Neuropädiaterinnen und Neuropädiater (Ärzte, die auf Erkrankungen des Nervensystems bei Kindern spezialisiert sind) haben sich auf ein Konsensusstatement zur Schubtherapie geeinigt, das heisst, ein Konzept entwickelt, das eine standardisierte und einheitliche Schubbehandlung ermöglicht. Ist die Erholung nicht ausreichend, stehen weitere Therapieverfahren wie die Plasmapherese («Blutwäsche») zur Verfügung. Die Plasmapherese wird an den grossen Kinderkliniken in der Schweiz sicher und gut verträglich durchgeführt.

Das mittelfristige Ziel der Langzeittherapie ist Schubfreiheit und Verhinderung neuer Hirnläsionen (also von entzündlichen Verletzungen im Gehirn durch die MS). Mit den Mitteln, die heute zur Verfügung stehen, ist dieses Ziel bei fast allen jungen MS-Patienten gut erreichbar. Das längerfristige Ziel besteht darin, kognitive Defizite und Hirnatrophie (Schwierigkeiten bei Denkleistungen und Abbau von Hirnsubstanz) weitestgehend zu vermeiden, beziehungsweise, das Fortschreiten aufzuhalten. Wie gut das mit den aktuell verfügbaren Therapien möglich ist, kann aktuell noch nicht abschliessend beurteilt werden, weil die dafür notwendigen Langzeitdaten noch nicht verfügbar sind.

Welche Therapien gibt es?

Von Swissmedic sind in der Schweiz  aktuell zur Behandlung der MS im Kindes- und Jugendalter Glatirameracetat und Interferone zum Spritzen zugelassen,  Fingolimod als Tablette. Fingolimod ist das erste Medikament, dessen Wirksamkeit und Verträglichkeit im Rahmen einer soliden wissenschaftlichen  Studie (PARADIGMS-Studie) erfolgreich bei Kindern und Jugendlichen mit MS bewiesen worden ist. Die übrigen MS Therapeutika werden bei hoher Krankheitsaktivität «off label» eingesetzt. Dies bedeutet, dass sie die Zulassung zur MS Therapie im Kindes- und Jugendalter offiziell nicht haben, aber basierend auf den wissenschaftlichen und klinischen Daten bei den Erwachsenen auch bei jüngeren Patienten zum Einsatz kommen. Zu den häufigsten «off label» genutzten Präparate gehören Natalizumab und Rituximab. Aus grossen Fallserien wissen wir, dass speziell Natalizumab bei Kindern und Jugendlichen äusserst wirksam und gut verträglich eingesetzt wird. Da mittlerweile diverse Alternativen bei hoch aktiver MS zur Verfügung stehen, sollte sich der Einsatz von Natalizumab auf JCV negative Patienten beschränken und diesbezüglich standardisiert monitorisiert werden. Rituximab hat den Vorteil, dass die Dosierung je nach Körpergewicht angepasst wird und somit auch den jüngeren MS Patienten zur Verfügung steht. Zudem ist Rituximab in der Kinderheilkunde nicht unbekannt, ist damit also kein «neues» Präparat in dieser Altersgruppe.

Die Therapieempfehlung für eine Langzeittherapie ist immer individuell auf den jeweiligen Patienten zugeschnitten. Was muss dabei berücksichtigt werden? Das Alter des Patienten, die Krankheitsaktivität und der Schweregrad bei Diagnosestellung, dann die Erholung vom ersten Schub, mögliche Begleiterkrankungen (sind im Kindes- und Jugendalter glücklicherweise selten) und – ganz wichtig – der Wunsch des jungen Patienten. Um es auf den Punkt zu bringen: Nur wenn die Jugendlichen verstehen, dass Ihnen eine Langzeittherapie hilft und sie sich darauf einlassen können, wird sie längerfristig erfolgreich sein.

Verschaffen Sie sich hier eine Übersicht der Verlaufstherapien für Kinder und Jugendliche:

Zwei Therapieansätze

Aktuell werden in der internationalen wissenschaftlichen Literatur zwei Therapieansätze diskutiert.

Start slow and escalate (langsam beginnen, dann steigern)
Bei diesem Therapieansatz wird in der Regel mit einem immunmodulierenden Präparat (Interferon oder Glatirameracetat) begonnen. Erst wenn sich herausstellt, dass das nicht funktioniert (man nennt das «inadäquates Ansprechen»), wird auf ein stärkeres Medikament umgestiegen. Der Vorteil dieses Therapieansatzes besteht darin, dass die Therapie über Jahre ohne Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen durchgeführt werden kann. Leider gelingt es aber oftmals nicht, die Krankheitsaktivität damit in Schach zu halten.

Start strong, maintain remission (Stark beginnen, dann anpassen)
Dieser Therapieansatz basiert auf der hohen Krankheitsaktivität, die früh von kognitiven Einschränkungen und Hirnatrophie begleitet ist. Mit dieser Therapiestrategie wird deshalb das Ziel verfolgt, die MS so rasch wie möglich «zur Ruhe» zu bringen – konkret: weitere Krankheitsaktivität zu verhindern. Deshalb wird hier gleich zu Beginn ein hoch potentes – also starkes -  MS Therapeutikum eingesetzt. Funktioniert das gut und stabil, kann über eine Abschwächung nachgedacht werden.  Die Vorteile dieses Ansatzes liegen in der raschen Kontrolle der Krankheitsaktivität inklusive Rückkehr in den normalen Alltag. Zudem sind die Medikamente gut verträglich. Die Herausforderungen dieses Therapieansatzes finden sich im Abwägen des Nutzen-Risiko-Verhältnisses und in der Frage, ob und wann ein geeigneter Zeitpunkt für eine Abschwächung gekommen ist.

Individuelle Entscheidung

Welcher der beiden Therapieansätze beim jeweiligen Patienten zum Einsatz kommt, muss individuell entschieden werden. Hilfreich ist ein Blick zurück in die sogenannten «natural history studies». Das sind Arbeiten, die aus einer Zeit stammen, in denen MS im Kindes- und Jugendalter kaum diagnostiziert oder behandelt wurde und somit den «natürlichen Verlauf» der Krankheit aufzeigen. Darin wird deutlich, dass die sekundär progrediente Phase im jungen Erwachsenenalter einsetzt und von der initialen Krankheitsaktivität abhängig ist. Wir wissen auch, dass die im MRI vermeintlich «normale» weisse Substanz alles andere als normal ist. Einfacher formuliert: wir wissen, dass n i c h t behandeln n i c h t gut kommt. Daher ist bei allen Kindern und Jugendlichen mit einer MS Diagnose eine Langzeittherapie empfohlen.

Zusammenfassend stellt die Therapie von Kindern und Jugendlichen mit MS auf verschiedenen Ebenen eine Herausforderung dar. Sie gehört damit ohne Wenn und Aber in die Hände von Spezialisten, die über die nötigen Erfahrungen verfügen.

Text: PD Dr. med. Sandra Bigi, MD MSc, Universitätsklinik Inselspital Bern


Unterschiede zu Erwachsenen mit MS

Der absolut zentrale und wichtigste Punkt bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit MS ist die Tatsache, dass die Krankheit ein Gehirn angreift, das sich noch in der Entwicklung befindet.

MS kommt auch bei Kindern und Jugendlichen vor. Vergleicht man den Krankheitsverlauf bei Erwachsenen mit dem einer Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen, gibt es trotz vieler Gemeinsamkeiten auch einige wichtige Unterschiede.

MS im Kindes- und Jugendalter ist keine grundlegend andere Krankheit als im Erwachsenenalter. Man geht davon aus, dass dieselben Mechanismen dahinterstecken (auch wenn diese bis jetzt noch nicht vollständig verstanden werden) und auch die Therapieansätze sind vergleichbar. Dennoch gibt es auch klare Unterschiede mit Blick auf Häufigkeit, klinischer Präsentation und Verlauf, die Einfluss auf die Betreuung dieser jungen Patienten haben.

Der absolut zentrale und wichtigste Punkt bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit MS ist die Tatsache, dass die Krankheit ein Gehirn angreift, das sich noch in der Entwicklung befindet. Konkret heisst das, dass chronische Entzündungsprozesse in einem Gehirn ablaufen, das noch nicht vollständig ausgereift ist. Nach heutigem Wissensstand ist das die Hauptursache für die frühen kognitiven Beeinträchtigungen und die Hirnvolumenminderung bei MS im Kindes- und Jugendalter ist (siehe unten).

Wo liegen die Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern und Jugendlichen mit MS?

Mit einer Häufigkeit von 1-3 Erkrankungen unter 100'000 Menschen gehört MS im Kindes- und Jugendalter zu den wirklich seltenen Krankheiten. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Mehrheit der Kinderärzte nicht automatisch auf einen grossen Erfahrungsschatz aufbauen kann, wie dies bei anderen Erkrankungen im Kindesalter der Fall ist. Daher braucht es für die professionelle Betreuung zusätzlich zum Kinderarzt Spezialisten, die sich mit seltenen Erkrankungen des sich entwickelnden Gehirns - konkret mit der MS – auskennen. Bei uns sind dies die Kinderneurologen oder Neuropädiaterinnen. Wenn eine Krankheit selten vorkommt, hat dies auch Einfluss auf die wissenschaftlichen Möglichkeiten. Die klinische Forschung ist wesentlich, um MS im Kindes- und Jugendalter besser verstehen und die Therapie dieser Patienten optimieren zu können. Um eine methodologisch solide Forschung zu ermöglichen, braucht es ein grosses Netzwerk und Zusammenarbeit, damit aussagekräftige Zahlen zusammenkommen. Hier leisten Register einen wichtigen Beitrag. 

Schweizer Register für entzündliche Gehirnerkrankungen im Kindesalter

Kinder und Jugendliche mit MS haben mehr Schübe und eine raschere Zunahme der entzündlichen Hirnläsionen. Betrachtet man die ersten paar Jahre nach der Diagnosestellung, haben Kinder und Jugendliche zwei- bis dreimal mehr Schübe als Erwachsene mit MS. Ebenso können in den regelmässig durchgeführten MRI-Kontrollen im gleichen Zeitintervall eine grössere Anzahl neuer Läsionen beobachtet werden. Diese finden sich vor allem in der hinteren Schädelgrube. Kleinere Kinder (in der Regel vor der Pubertät) haben zusätzlich sehr grosse, teilweise unscharf begrenzte Läsionen. Wieso das so ist, ist nicht restlos geklärt. Man vermutet, dass das mit der Reife, beziehungsweise mit der Aktivität des Immunsystems zusammenhängt. Kinder und Jugendliche mit MS haben ein exzellentes Erholungspotential, das heisst die grosse Mehrheit erholt sich vollständig von den ersten Schüben. Dies ist für den Patienten in der Akutphase gut, gleichzeitig aber auch tückisch, weil man sich der Tragweite der Erkrankung weniger bewusst ist - und deshalb unter Umständen die eigentlich zwingende Therapienotwendigkeit in Frage gestellt wird.

Ein Drittel der Kinder und Jugendlichen mit MS zeigen sehr früh, das heisst in den ersten drei Jahren nach Diagnosestellung, alltagsrelevante kognitive Beeinträchtigungen. Diese frühen kognitiven Defizite sind der markanteste Unterschied zu Erwachsenen mit MS. Der chronische Entzündungsprozess betrifft ein sich noch entwickelndes und daher äusserst verwundbares Gehirn. Dies führt zu vermindertem Hirnwachstum (verglichen mit Gleichaltrigen), veränderter Myelinisierung (Umwicklung der Nervenbahnen) und geringerer Reifung neuronaler Netzwerke. Am häufigsten ist die Verarbeitungsgeschwindigkeit betroffen. Dies bedeutet, dass die Verarbeitung von Informationen länger braucht als bei Gesunden. In komplexen Situationen wie Schulprüfungen führt dies zu Schwierigkeiten, die vor allem bei Jugendlichen sehr frustrierend sein können. Allerdings kann man mit kleinen Anpassungen (zum Beispiel mehr Zeit für Prüfungen oder Reduktion der Prüfungsaufgaben) diese Hürden gut beheben und den Betroffenen helfen, ihr Potential auszuschöpfen.

Wenn die MS sehr junge Kinder betrifft, können zusätzlich Schwierigkeiten beim Sprechen (Wortfindung, Sprachflüssigkeit) auftreten. Die kognitiven Beeinträchtigungen sind aus verschiedenen Gründen eine Herausforderung, die aktiv angegangen und angesprochen werden muss. Da man kognitive Probleme «von aussen» nicht sieht, vergeht oftmals wertvolle Zeit, bevor Betroffene die nötige und ihnen zustehende Unterstützung erhalten. Nicht selten erleben sie zuerst einmal Unverständnis, das darauf beruht, dass MS im Kindes- und Jugendalter zu wenig bekannt ist. Umso wichtiger ist es, das Verständnis der Bevölkerung für dieses Krankheitsbild zu schaffen und zu schärfen. Die Patienten befinden sich oftmals in den Schlüsseljahren ihrer Schulkarriere, die Berufswahl und der Schritt in die Selbständigkeit stehen an. Um die jungen Patienten in dieser entscheidenden Phase bestmöglich zu betreuen und zu begleiten, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Patienten, Ärztin, Neuropsychologin und der Schule ultimativ wichtig.

Text: PD Dr. med. Sandra Bigi, MD MSc, Universitätsklinik Inselspital Bern


Neuroradiologie

Um mögliche andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ausschliessen und die Diagnose Multiple Sklerose stellen zu können, wird die Magnetresonanzuntersuchung des Schädels und der Wirbelsäule eingesetzt.

Die Diagnose MS bei Kindern und Jugendlichen löst Ängste und Fragen aus. Sie betrifft die ganze Familie. Mit früher Diagnostik und modernen Therapieansätzen wird gemeinsam mit allen Betroffenen der individuell richtige Weg gesucht und gegangen.

Die Magnetresonanzuntersuchung – kurz MRI genannt – ist aus dem Gebiet der Multiplen Sklerose im Kindes- und Jugendalter nicht mehr wegzudenken. Ein MRI ist ein bildgebendes Verfahren, welches mittels starkem Magnetfeld Schichtbilder des Körpers erzeugen kann. Das ermöglicht eine klare und genaue Darstellung von Organen, wie beispielsweise des Gehirns oder Rückenmarks. Das MRI ist damit der entscheidende Baustein in der Diagnostik, ausschlaggebend in der Beurteilung des Therapiewirkung und eines der wichtigsten Messinstrumente in der MS Forschung bei Kindern und Jugendlichen.

Diagnostik

Um mögliche andere Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen ausschliessen und die Diagnose Multiple Sklerose stellen zu können, wird die Magnetresonanzuntersuchung des Schädels und der Wirbelsäule eingesetzt. Während bei Jugendlichen die MS typischen Veränderungen im Gehirn mit denen im Erwachsenenalter vergleichbar sind, muss beim jungen Kind die Reifung der weissen Substanz, die sogenannte Myelinisierung, in der Beurteilung mitberücksichtigt werden. Weiter muss sichergestellt werden, dass nicht eine andere entzündliche Hirnerkrankung, eine Infektion oder eine Stoffwechselerkrankung, für die Symptome verantwortlich ist. Für die Beurteilung der MRI-Bilder braucht es zwingend Neuroradiologen, die über eine ausreichende Erfahrung in pädiatrischer (pädiatrisch = Kinderheilkunde) Neuroradiologie verfügen. Zur Beurteilung der initialen Läsionslast – dies sind die sichtbaren Verletzungen im Gehirn - wird ergänzend auch ein MRI der Wirbelsäule gemacht. Analog zu den Erwachsenen werden auch bei Kindern und Jugendlichen mit MS die 2017 McDonald Kriterien zur Evaluation der zeitlichen und räumlichen Streuung angewendet. Die McDonald Kriterien sind ein standardisiertes Verfahren zur Diagnosestellung einer MS.

Beurteilung der Krankheitsaktivität und des Therapieansprechens

Alle sechs bis zwölf Monate werden regelmässige MRI Kontrollen durchgeführt. Sie geben Einblick in die Krankheitsaktivität bzw. die Wirksamkeit der installierten Langzeittherapie. In der Regel reicht das Schädel MRI für die Überwachung und Kontrolle der Therapie aus. Ein Wirbelsäulen MRI wird nur dann regelmässig durchgeführt, wenn Entzündungsprozesse im Rückenmark vorhanden sind oder hohe entzündliche Schädigungen, die sogenannte Läsionslast, bereits zu Beginn insbesondere im Bereich der Wirbelsäule auftreten. Die erste Phase für die Einstellung der Dosierung der Medikamente dauert je nach Medikament drei bis sechs Monate. Treten nach dieser initialen Eindosierungsphase weiterhin neue Läsionen auf, ist die Krankheitskontrolle durch das gewählte MS Therapeutikum unzureichend. In einem solchen Fall werden die Änderung der Therapie bzw. die Therapieeskalation individuell mit den Betroffenen besprochen. Dabei werden das Alter, die bisherigen Schübe und die individuelle Erholung davon berücksichtigt. Weiter werden die aktuelle MS Therapie und die eingesetzten Medikamente, die gesamte Läsionslast und der Nachweis von entzündlichen Aktivitäten im Sinne von kontrastmittelaufnehmenden Läsionen beurteilt.

Forschung

Mit Hilfe von modernen Techniken erlaubt das MRI Aussagen zur strukturellen Pathologie (das ist die Lehre von krankhaften Vorgängen oder Zuständen im Körper und deren Ursachen). Prozesse, die sich im Hintergrund abspielen, werden damit sichtbar gemacht. Konkret bedeutet dies erstens einen Einblick in MS-bedingte Veränderungen der weissen Substanz auch an läsionsfreien Stellen. Dies geschieht unter Verwendung der sogenannt fraktionalen Anisotropie. Zweitens sind Hirnvolumenveränderungen über die Zeit und das Ausmass der Hirnatrophie (allmählicher Verlust von Hirnsubstanz) mittels quantitativer Analyseverfahren (Volumetrie) erkennbar und drittens die Aktivierung neuronaler Netzwerke bei standardisierten Aufgaben durch das funktionelle MRI (fMRI). Das Ziel dieser Untersuchungen ist es, die Therapie der MS im Kindes- und Jugendalter weiter zu optimieren und zu verstehen, welche Therapie für die individuellen, von MS betroffenen Kinder und Jugendlichen, die beste ist. In der Fachsprache wird dabei vom sogenannten «individually tailored treatment approach» gesprochen. Die Forschung ist Grundlage und Voraussetzung, damit individuelle klinische Erfahrungen zusammengefasst und systematisch-strukturiert analysiert werden können. Erst dadurch entstehen Erkenntnisse, die sich zuverlässig auf eine grössere Patientengruppe übertragen lassen.

Text: PD Dr. med. Sandra Bigi, MD MSc, Universitätsklinik Inselspital Bern