Denken & Handeln
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Lesen Sie hier über kognitive Störungen und deren Auswirkungen auf den Alltag von MS-Betroffenen

Störungen der geistigen Leistungsfähigkeit (kognitive Störungen)

Inzwischen ist zunehmend deutlich geworden, dass neben den hinlänglich beschriebenen neurologischen Störungen im Verlauf der MS die unterschiedlichsten, so genannten neuropsychologischen Störungen auftreten können. Hiermit sind Beeinträchtigungen gemeint, die insbesondere die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis, die Sprache, die geistige Flexibilität und das mentale Strukturierungs- und Durchhaltevermögen, kurzum die geistige Leistungsfähigkeit betreffen. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass bei 50 bis 70 % der MS-Betroffenen spezifische neuropsycho­logische Teilleistungsbeeinträchtigungen auftreten.

Obgleich diese Defizite in einem oder allen der genannten Bereiche von nahezu der Hälfte der Betroffenen im Verlaufe der Erkrankung geschildert werden, ist ihnen bislang eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Tatsächlich sind es aber gerade diese Einschränkungen, die gemeinsam mit weiteren psychologischen Schwierigkeiten (Fatigue, Depressionen, Angstgefühle, Veränderungen auf der emotionalen Ebene, Sexualität und Rollenverhalten) zu teilweise erheblichen Alltagsschwierigkeiten der Betroffenen führen. Im Einzelfall können die Schwierigkeiten in diesen Bereichen sogar die körperlichen Symptome überwiegen und zu deutlichen Einbussen der Lebensqualität von Betroffenen und Angehörigen führen.

  • Kognitive Probleme im Alltag

    Ein Grund für die wachsende Bedeutung der neuropsychologischen Defizite liegt in der zunehmenden Technologisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen. Heutzutage werden in zunehmendem Masse sowohl im Berufs- als auch im Privatleben weniger die körperliche Kraft und Ausdauer, sondern vielmehr das mentale Durchhaltevermögen und die geistige Beweglichkeit gefordert. Inzwischen konnten Langzeitstudien eindrücklich belegen, dass neben dem körperlichen Behinderungsgrad insbesondere die geistige Leistungsfähigkeit eine entscheidende Rolle im Erwerbsleben spielt. Zugleich stellt die kognitive Funktionstüchtigkeit aber auch für die Teilnahme des Einzelnen am sozialen Leben eine wichtige Bedingung dar und ist damit für die Lebensqualität von enormer Bedeutung.

    Die ersten Beschreibungen der kognitiven Störungen bei Menschen mit MS finden sich schon in der historischen neurologischen Literatur. Diese waren aber eher wenig differenziert. Da es seinerzeit kaum Behandlungsmöglichkeiten gab, die den heutigen Therapien vergleichbar sind, sahen die Erstbeschreiber dieser Erkrankung häufig solche Betroffene, die einen insgesamt ungünstigen Verlauf hatten und dementsprechend auch in ihrer geistigen Leistungsfähigkeit deutlich reduziert waren. Aus dieser Zeit stammt noch die Ansicht, dass die Multiple Sklerose langfristig zu schweren Hirnleistungsstörungen führt. Erst in den letzten beiden Jahrzehnten wurden diese Defizite genauer beschrieben. Dabei kristallisierte sich heraus, dass bei der Mehrheit der Betroffenen und in Abhängigkeit vom Verlaufstyp keine globale, d.h. alle mentalen Bereiche gleichermassen betreffende Leistungsminderung vorliegt, sondern in den meisten Fällen eher spezifische neuropsycho­logische Teilleistungsbeeinträchtigungen beklagt werden. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass diese Teildefizite bei  50 bis 70 % der MS-Betroffenen auftreten. Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen sowie Veränderungen der mentalen Flexibilität zählen hierbei zu den häufigsten Beeinträchtigungen.

  • Neuropsychologische Diagnostik

    Die Vorkommenshäufigkeit und die Alltagsrelevanz der kognitiven Störungen macht eine  klinisch-neuropsychologische Untersuchung dieses Leistungsbereiches bei Menschen mit MS geradezu zwingend erforderlich. Genauso wie es im Rahmen der neurologischen Untersuchung möglich und sinnvoll ist, über standardisierte (also auf wissenschaftlichen Untersuchungen basierende und einheitlich festgelegte) Skalen genauere Informationen über den körperlichen Zustand von Betroffenen zu erfahren (wie das z.B. mit Hilfe der EDSS geschieht), sollte die Überprüfung der kognitiven Leistungsfähigkeit ebenfalls mittels standardisierter neuropsychologischer Testverfahren erfolgen. Ergänzend hierzu können zur Einschätzung anderer psychologisch und umweltrelevanter Faktoren auch standardisierte Fragebögen (z.B. zur Fatigue) sowie strukturierte Interviews eingesetzt werden. Gemeinsam können die aus solchen Verfahren gewonnenen Informationen zur Einschätzung des Gesamtbildes und damit zur Optimierung der Therapieplanung und zur Verlaufskontrolle eingesetzt werden.

  • Störungen der Aufmerksamkeit und Konzentration

    Das Gehirn als oberste Zentrale unseres Informationsverarbeitungssystems ist ständig damit beschäftigt, die Vielzahl von Informationen, die sowohl von unserem Körperinneren (z.B. Hungergefühl, Durst etc.) als auch von der Aussenwelt (z.B. Verkehrshinweise, Telefonate etc.) auf uns einströmen, zu sortieren und sinnvoll nach Inhalt, Wichtigkeit und Vorrang zu ordnen. Somit bildet die Fähigkeit der Aufmerksamkeitszuwendung das Grundgerüst für die geistige Tätigkeit.

    Manchmal beklagen Menschen mit MS, dass ihre Konzentration nachlässt, dass sie nicht immer in der Lage sind mehrere Dinge gleichzeitig zu erledigen oder schnell zu reagieren. Oft aber stellt sich bei genauerer Untersuchung heraus, dass nur bestimmte Teilbereiche der Aufmerksamkeitsfähigkeit beeinträchtigt sind. Der Grund für die allgemeine Leistungsreduktion mag dann bei diesen Menschen bei einer chronischen Überanstrengung dieser reduzierten Teilleistung liegen, die sich dann ihrerseits nachteilig auf die Gesamtleistung auswirkt. In diesem Falle könnte eine genauere Aufmerksamkeitstestung praktische Konsequenzen haben: es könnten sowohl Möglichkeiten der Optimierung dieser Leistung als auch Kompensationsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Gerade diese Möglichkeiten sind wichtig, um z.B. berufstätigen MS-Betroffenen den Arbeitsalltag zu erleichtern. Ferner konnte inzwischen in Studien gezeigt werden, dass sich bestimmte Aufmerksamkeitsfunktionen gezielt trainieren lassen. Auch scheint ein Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeitsdefiziten und Schubaktivität zu bestehen. Daraus folgt, dass eine Therapie, die sich effektiv auf  eine Schubreduktion auswirkt, zugleich auch zum Erhalt der geistigen Leistungsfähigkeit beiträgt.

  • Störungen des Gedächtnisses

    Die Persönlichkeit des Menschen ist durch seine Fähigkeit bestimmt, sich neues Wissen aneignen zu können. Hierfür sind im menschlichen Gehirn weit über 100 Milliarden Nervenzellen miteinander vernetzt; unser Wissen und unsere Erfahrungen liegen dank unseres Gedächtnisses abrufbereit im Gehirn gespeichert. Gleich beim Einspeicherungsvorgang nimmt unsere eigene Vergangenheit mit Hilfe der Erinnerung auch Einfluss auf unsere gegenwärtige Wahrnehmung, indem die eintreffenden Informationen bewertet, interpretiert und mit alten Erfahrungen abgeglichen werden. Gleichermassen nehmen aber auch unsere Aufmerksamkeitsleistungen und unsere Emotionen Einfluss auf das, was wir uns merken und woran wir uns später erinnern. Die Tatsache, dass wir uns Dinge besser einprägen, die uns emotional mehr berühren oder die auf uns einfach bizarr wirken und damit unsere Neugier wecken, lässt sich auch für Übungen für die Verbesserung unserer Gedächtnisleistung positiv nutzen.

  • Mentale Flexibilität und Problemlösefähigkeit

    Unter mentaler Flexibilität wird die Fähigkeit verstanden, die uns zur Verfügung stehenden mentalen Ressorucen zielorientiert und flexibel zur Lösung eines bestimmten Problems nutzen zu können. Damit können sowohl das Lösen einer Rechenaufgabe als auch die Planung und Durchführung einer Alltagshandlung (Zubereitung einer Speise, Planung einer Reise etc.) gemeint sein. Die mentale Koordination verschiedener Aufgaben, die teilweise zeitgleich oder zumindest in enger Abgleichung erfolgen muss, erfordert von uns ein Höchstmass an geistiger Flexibilität. Zugleich wird deutlich, dass im Alltagsleben an dieser Fähigkeit sowohl Aufmerksamkeits- als auch Gedächtnisaspekte beteiligt sind (so müssen wir z.B. beim Telefonieren aufmerksam sein, Umgebungsgeräusche ausblenden, einen neuen vorgeschlagenen Termin mit unserem sonstigen Zeitplan abgleichen und diesen mit bereits getroffenen Vereinbarungen koordinieren).

Was bedeuten diese Defizite für den Alltag?

Obwohl die Forschung in der Beschreibung und im Verständnis dieser Defizite deutliche Fortschritte verzeichnen konnte, hat man erst neuerdings ihre alltagspraktische Bedeutung erkannt. Gerade im Berufsleben sind diese Symptome, die sich im Verlauf der Erkrankung einstellen können, für die individuelle Zukunftsplanung entscheidend. Somit sind neuro­psychologische Untersuchungen hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit eines Individuums, aber auch im Rahmen der Erarbeitung einer individuellen therapeutischen Strategie von besonderer Bedeutung. Die Tatsache, dass die geistige Leistungsfähigkeit mittels verschiedener geistiger Leistungstests auch in klinischen Studien untersucht wird, zeigt, dass ein Teilziel der erwünschten Wirksamkeit von neuen (oder bewährten) Medikamenten auch darin besteht, diese alltagsrelevante Funktion möglichst zu erhalten oder wenn möglich zu verbessern. Auch gibt es inzwischen Trainingsprogramme, mittels derer man die geistige Leistungsfähigkeit gezielt trainieren kann. All diese Bemühungen stehen im Dienste einer Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen.

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