Spastik und MS

Fachartikel

Schmerzhafte Muskelverkrampfungen, auch Spasmen genannt, gehören zu den häufigsten Symptomen, welche die Lebensqualität der MS-Betroffenen beeinträchtigen. Vielfach lassen sich diese Erscheinungen durch physiotherapeutische und medikamentöse Massnahmen günstig beeinflussen.

Wie entstehen schmerzhafte Muskelverkrampfungen?

Je nach Lage des entzündlichen Geschehens im Zentralnervensystem entstehen unterschiedliche Symptome. Ist das Kleinhirn betroffen, kommt es zu Koordinationsstörungen und einem Zittern bei willkürlichen Bewegungen (Intentionstremor). Sind die Hinterstränge (= das sensorische Reizleitungssystem des Rückenmarks) betroffen, klagen MS-Betroffene eher über Missempfindungen und Schmerzen. Sind hingegen die Vorderstränge (= das motorische Reizleitungssystem des Rückenmarks) lädiert, so treten Lähmungen und Spasmen auf. Mit anderen Worten: Die jeweiligen Entzündungsherde verhindern, dass die übergeordneten Hirnzentren die untergeordneten Bewegungs- und Reflexzentren im Rückenmark kontrollieren, was die etwas regellose Überaktivität in den «verwaisten» Rückenmarkzentren begünstigt. Manchmal ist bei der Spastizität die Reflexaktivität derart erhöht, dass es zu rhythmisch erschöpflichen oder unerschöpflichen Kontraktionen von Muskelgruppen (Klonus) kommt. Gut bekannt sind der Fussklonus beim Aufsetzen des Fussballens auf die Fussstützen des Rollstuhls oder die besonders nachts im Liegen auftretenden Muskelverspannungen, bei denen sich die Beine unwillkürlich und oft schmerzhaft beugen oder strecken. Die Erfahrung zeigt, dass Spastizität und erhöhter Muskeltonus kein konstantes Phänomen darstellen und im Rahmen eines Schubes, bei Blasenentzündungen, Druckstellen auf der Haut, starker Verstopfung, unter Angst und bei starker Müdigkeit zunehmen können. SPASTIK UND MS Schmerzhafte Muskelverkrampfungen, auch Spasmen genannt, gehören zu den häufigsten Symptomen, welche die Lebensqualität der MS-Betroffenen beeinträchtigen. Vielfach lassen sich diese Erscheinungen durch physiotherapeutische und medikamentöse Massnahmen günstig beeinflussen.

Welchen Beitrag leistet die Physiotherapie?

Ganz allgemein zielen die physiotherapeutischen Massnahmen bei MS-Betroffenen darauf ab, alle funktionellen Möglichkeiten voll auszuschöpfen, die durch die Spastizität hervorgerufenen schmerzhaften Muskelverspannungen zu lösen oder zumindest zu lindern und besonders bei den Schwerstbetroffenen den inaktivitätsbedingten Muskelverkürzungen durch krankengymnastische Handgriffe vorzubeugen. Da Bewegungen bei erhöhtem Muskeltonus nur mit grösster Anstrengung möglich sind, fördern tonussenkende Massnahmen die Beweglichkeit und wirken gleichzeitig der oft erhöhten Ermüdbarkeit entgegen. Diese Massnahmen sind aber nur nachhaltig wirksam, wenn sie regelmässig durchgeführt werden und nicht nur während eines Reha-Aufenthalts oder in der ambulanten Physiotherapie. Ein Heimprogramm mit geeigneten Übungen ist hier hilfreich.

Warum senken besondere Lagerungen den Tonus?

Eine korrekte Lagerung hilft die gesteigerte Reflexaktivität zu kontrollieren. Jene Muskelgruppen, welche vermehrt zur Spastizität neigen – meist die Beugemuskulatur in den Armen und die Kniestrecker – sind in maximaler Dehnung zu lagern. Da schwerer Betroffene häufig durchgehend einer solchen Lagerung bedürfen, ist es wichtig, dass sie sich dabei wohlfühlen und entspannt liegen können. Bei MS-Betroffenen mit einer Streckneigung in den Beinen ist die Seitenlagerung mit gebeugten Hüft- und Knie gelenken zu bevorzugen. Die Rückenlage fördert Streckspasmen, die Beine kaum oder gar nicht bewegen lässt. Bei dauernder Bettlägerigkeit empfiehlt sich eine regelmässige Umlagerung alle 2 bis 3 Stunden, um weiteren Komplikationen wie Druckstellen, Gelenkskontrakturen und fixierte Haltungsmuster vorzubeugen.

Welche Handgriffe vermindern Muskeltonus?

Die therapeutischen Handgriffe müssen beim spastisch Gelähmten differenziert angesetzt werden mit dem Ziel, den erhöhten Muskeltonus zu senken und normale Bewegungen und Haltungen zu fördern. Besondere physiotherapeutische Verfahren, wie das seit Jahren bekannte «Bobath»-Konzept, beruhen darauf, gelähmte Extremitäten erst nach Herabsetzung des Muskeltonus zu aktiven Bewegungen anzuhalten. Ebenfalls aus der Physiotherapie stammt die weit verbreitete Methode der propriozeptiven neuromuskulären Fazilitation («PNF-Konzept»). Diese geht davon aus, dass das Hirn auf gezielte Reize, die über Nerven und Rückenmark das Zentralnervensystem erreichen (Propriozeption), bestimmte motorische (neuromuskuläre) Antworten bereithält. Pflegende Angehörige können von physiotherapeutischen Fachpersonen nützliche Handgriffe erlernen.

Ist Hippotherapie bei Muskeltonus hilfreich?

Bei der Hippotherapie kommt es zu einer passiven Einwirkung, das heisst, die gleichmässig wiederkehrenden Bewegungen des Pferderückens wirken tonusregulierend. Besonders bei einem erhöhten Adduktorentonus wird das Reiten zur Lockerung der Beine beitragen. Neben den motorischen Zielen schult die Hippotherapie auch das Körperempfinden, das Bewegungsgefühl und stimuliert die Psyche. Auf die Kosten der Hippotherapie tritt die Krankenkasse ein.

Nützen Stehvorrichtungen um den Tonus zu senken?

MS-Betroffene, die nicht mehr alleine stehen oder gehen können, sollten regelmässig an einem Stehtisch stehen; dies dient als Kontrakturprophylaxe für Füsse, Knie, Hüfte und Rumpf. Neben der Tonussenkung wirkt das Stehen gegen die Entkalkungstendenz und fördert die Darmregulierung. Falls ambulant keine Therapie am Stehtisch durchgeführt werden kann, gibt es einfach zu montierende Wandstanding mit einem Halt an drei Punkten.

Gibt es Geräte zur Tonussenkung?

Der Bewegungstrainer Motomed® erlaubt MS-Betroffenen im Rollstuhl sitzend die Beine zu fixieren und Radfahrbewegungen auszuführen. Es können Bewegungstempo und -richtung, Gesamtdauer und Widerstand eingestellt werden. Ist der Widerstand durch die Spastik zu gross, hält der Apparat automatisch an oder fährt in der anderen Richtung zurück. Viele MS-Betroffene benutzen diesen Bewegungstrainer auch zu Hause ergänzend zur Therapie. Das Gehen mit Hilfe des Lokomats®, dessen Wirksamkeit auf die Gehfähigkeit bei Querschnittslähmung gut belegt ist, kann bei MS-Betroffenen bewegungsfördernd und tonussenkend sein.

Welche Medikamente helfen bei Spasmen?

Bei Spastizität, insbesondere wenn diese von schmerzhaften Spasmen begleitet ist, gibt es wirksame Arzneimittel. Es ist aber stets eine Gratwanderung zwischen erwünschter Reduktion des Muskeltonus und unerwünschter Verstärkung der Lähmungen. Auch sollte beachtet werden, dass bei einer spastischen Paraparese ein Teil der Spastizität notwendig ist, um Stehen und Gehen überhaupt zu ermöglichen. Es ist deshalb notwendig und sinnvoll, eine gewisse stützende «Reststeifigkeit» zu belassen. Weiter ist zu beachten, dass die komplexen pathophysiologischen Ver- änderungen im Rückenmark, welche der Spastizität zugrunde liegen, nicht rückgängig gemacht werden können. Auch darf man nicht enttäuscht sein, wenn die Muskeln zwar etwas locker werden, aber die gestörte Feinmotorik weitgehend fortbesteht. Die sorgfältige Dosierung der spastik-hemmenden Medikamente wie Baclofen, Dantrolen, Tizanidine (siehe Tabelle) und ihre Verteilung über den Tag, muss für jeden MS-Betroffenen individuell festgelegt werden. Baclofen kann auch über ein spezielles Pumpsystem intrathekal verabreicht werden, sofern alle anderen medikamentösen oder bewegungstherapeutischen Massnahmen scheiterten. Beschränkt sich die Tonuserhöhung auf wenige umschriebene Muskelgruppen, ist eine lokale Anwendung von Botulinus Toxin zu empfehlen.

Ist Hanf bei Spastik tatsächlich wirksam?

Seit der Entdeckung des Endocannabinoid-Systems vor cirka 20 Jahren werden Medikamente auf Cannabis-Basis intensiv erforscht. Endocannabinoide sind körpereigene Substanzen, die durch Bindung an die beiden Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2 den Informationsfluss zwischen den Neuronen des Zentralen Nervensystems modulieren. Bei neurodegenerativen Erkrankungen und insbesondere bei MS wurden pathologische Veränderungen im Endocannabinoid-System nachgewiesen, die sich durch Cannabinoide therapeutisch beeinflussen lassen. Konkret nimmt man an, dass die durch Cannabinoide bewirkte Schmerzlinderung bei MS-Betroffenen direkt durch eine Reduktion der schmerzhaften Muskelspasmen, indirekt durch Hemmung von Schmerzbahnen sowie durch Entzündungshemmung erfolgt. Das therapeutische Potenzial von Cannabinoiden bei Spastizität und Schmerzen wurde in jüngster Zeit in vielen randomisierten, placebo-kontrollierten Studien nachgewiesen. Seit der Revision des Betäubungsmittelgesetzes ist es in der Schweiz jedem Arzt möglich, beim Bundesamt für Gesundheit eine Sonderbewilligung für die Verschreibung von Cannabistinktur einzuholen, sofern die bisherigen Massnahmen nicht genügend wirksam waren. Das in den meisten europäischen Ländern erhältliche Nabixol (Sativex), ein Cannabisspray, das die beiden wichtigsten Cannabinoide enthält, sollte im Laufe des nächsten Jahres auch in der Schweiz erhältlich sein.

Und was bietet die Komplementärmedizin?

Gelegentlich wird von Erfolgen bei störender Spastizität durch Yoga, Akupunktur, Fusszonenreflexmassagen, Qi Gong, Tai Chi, Ultraschalltherapie oder der Feldenkrais-Methode berichtet. Verschiedenen Umfragen zufolge greift rund die Hälfte der MS-Betroffenen auf komplementär-medizinische Massnahmen zurück, zu denen auch Hanfkraut, chinesische Kräuter und Homöopathie zählen. Für die Therapeuten und Schulmediziner ist die Kenntnis dieser Methoden wichtig, damit sie Toleranz bei erwiesener Harmlosigkeit walten lassen oder aber bei bekannter Gefährlichkeit abraten können.

Text: Dr.med.C.Vaney, Chefarzt Neurologie, Berner Klinik Montana

Klonus = unwillkürliche Muskelanspannung 
Tonus = Spannung 
Kontraktur = Funktions- und Bewegungseinschränkung der Gelenke 
Adduktoren = Muskel zum Heranziehen eines Körperglieds 
Paraparese = inkomplette Lähmung