«MS ist ein Teil meines Lebens»

Andrea Vögeli (38) hat in jungen Jahren die Diagnose Multiple Sklerose (MS) erhalten. Ihre Reise mit der Nervenkrankheit.

 

 

Frau Vögeli, die Krankheit befiel Sie buchstäblich im Schlaf und fernab von der Heimat.
Stimmt, ich war damals mit 19 Jahren für einen Sprachaufenthalt in Brasilien. Nach einer Reise durchs Land bin ich kerngesund ins Bett gegangen und am nächsten Morgen mit allen möglichen Symptomen aufgewacht. Zuerst dachte ich, ich hätte etwas im Auge, da ich rechts wie durch einen Schleier sah. Als ich aufstehen wollte, sackte ich neben dem Bett zusammen. Meine Beine waren völlig taub. Ich hoffte, ein bisschen Ruhe würde mir gut tun. Das beruhige sich dann schon wieder. Und normalerweise renne ich nicht gleich zum Arzt. Als aber wenige Tage später auch meine Arme taub wurden und ich allgemein immer schwächer, habe ich Alarm geschlagen.

Was haben Sie gefühlt, als die Diagnose MS feststand?
In Brasilien stand MS vor 20 nicht als erste Erkrankung auf der Liste. Mein Glück war aber ein junger Neurologe, der das auf dem Schirm hatte, mich zur Untersuchung in die «Röhre» schob und dann die Anzeichen von Multiple Sklerose erkannte. Mir ging es wirklich nicht gut. Ich fühlte mich, als würde ich in einem anderen Körper stecken. So war ich in der ersten Sekunde fast froh, als ich die Diagnose bekam. Kein Gehirntumor. Immerhin muss ich nicht sterben. Und ich hatte von dieser Krankheit schon gehört. Das half, da alle Arztgespräche auf Portugiesisch waren. Doch dann musste ich es meinen Eltern am Telefon sagen, was sehr bewegend war.

Wie geht Ihr Umfeld damit um?
Ich habe das grosse Glück, gute Leute um mich herum zu haben. Mein Partner, mit dem ich drei Monate nach meiner Diagnose zusammenkam, hat alle Schritte der Krankheit mit mir durch-gestanden. Das muss man erst einmal schaffen. (lacht) Zudem habe ich wunderbare Eltern und treue Freunde. Ich arbeite als kaufmännische Angestellte bereits seit zehn Jahren im selben Betrieb. Dort schätzt man meine Stärken, nimmt aber genauso Rücksicht auf meine Defizite. Natürlich mussten alle voneinander lernen. Es braucht viel Verständnis, auch meinerseits. Wichtig ist, dass ich auch sage, wann ich Hilfe brauche. Die anderen können schliesslich nicht Gedanken lesen. Je mehr kommuniziert wird, desto einfacher geht es auch. Ich verbringe bereits mein halbes Leben mit dieser Krankheit. Da wird man zum Profi.

Wie geht es Ihnen heute?
Ich hatte seit vielen Jahren keinen Schub mehr. Seit zehn Jahren bekomme ich monatlich eine Infusion bei einem Facharzt. Diese soll die Entstehung von neuen Entzündungen reduzieren. Tatsächlich ist es still in meinem Körper, wie auch die regelmässigen Kontroll-Röntgen zeigen. Dennoch kommt es ständig zu einer leichten Verschlechterung. Meine schubförmige MS ist in die sogenannte sekundär progrediente Form übergegangen. Die stete Verschlechterung ist etwas unheimlich, aber planbarer und entspannter, als ständig in Angst vor dem nächsten Schub zu leben. Ausserhalb des Hauses kann ich mich nicht mehr ohne Gehhilfe bewegen und das nur auf ganz wackeligen Beinen. Für längere Strecken brauche ich den Rollstuhl. Meine komplette linke Körperseite ist stark geschwächt. Dummerweise bin ich Linkshänderin. Ich mache zwar noch immer viel mit Links, ich muss aber aufpassen, dass mir das Kaffeetassli nicht gleich aus der Hand fällt. Schmerzen habe ich aber keine, höchstens durch Fehlhaltung. Ich ermüde sehr schnell und fühl mich oft schwach. Ansonsten bin ich putzmunter! (lacht)

Woher nehmen Sie die Kraft, so positiv zu bleiben?
Auch ich hadere manchmal. In meinem Leben gibt es keine Spontaneität. Ich muss immer alles organisieren. Mit 19 war ich noch nicht so gefestigt. Doch dann dachte ich, ich habe noch so ein langes Leben vor mir. Ich darf den Kopf nicht in den Sand stecken! Da habe ich angefangen umzudenken: Ich suche immer nach einer Lösung. Ich darf nicht bereits jetzt Angst davor haben, was einmal sein wird. Ich habe nicht das Gefühl, dass meine Zukunft eingeschränkt ist. Machbar ist alles! Vielleicht wird es etwas aufwändiger, aber es gibt so viele Hilfsmittel.

Hatten Sie Angst vor dem Rollstuhl?
Ehrlich gesagt, habe ich lange gegen einen Rollstuhl angekämpft. Ich erinnere mich aber noch genau an den Moment, als es einfach nicht mehr ging. Nach den Ferien schaffte ich es kaum mehr aus dem Flugzeug bis zum Auto. Ich war schweissgebadet. So macht Reisen keine Freude mehr. Inzwischen nehme ich den Rollstuhl-Support am Flughafen in Anspruch. So luxuriös! Ich komme mir dann wie eine Prinzessin vor! Die Angst vor dem Rollstuhl war unbegründet. Jetzt habe ich viel mehr Energie. Das war eine gute Entscheidung.

Mussten Sie sich mit der Krankheit «anfreunden», um sie akzeptieren zu können?
Ich muss mich mit ihr nicht anfreunden. MS ist ein Teil meines Lebens. Sie bestimmt den Rhythmus. Aber ich bestimme immer noch bei allen Aktivitäten, wo es langgeht.

Hat sich seit der Corona-Krise etwas verändert für Sie?
Da ich zu einer Risiko-Gruppe gehöre, arbeite ich bereits seit Längerem von zu Hause aus. Ich vermisse aber meine Kollegen und den lebhaften Betrieb. Doch schon vor Corona habe ich gelernt, mich daheim zu beschäftigen und die Freizeit für mich sinnvoll und erfüllend zu nutzen. Ich lese, koche und backe gerne. Mit meinem dreirädrigen Spezial-Velo bin ich oft auf Achse. Und ich freue mich über Kleinigkeiten. Etwa, wenn ich in meinem Mini-Gärtli eigene Gürkli ziehen kann. (lacht)

Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Ich denke, was sich alle wünschen: Gesundheit für die Familie und mich. Auch ich bin nicht gefeit vor anderen Krankheiten. Neben noch ganz vielen Reisen durch Europa mit unserem VW-Bus möchte ich zum Beispiel einmal nach Lappland Hundeschlitten fahren. Es gibt keine Grenzen, man muss nur Mut haben und ein bisschen mehr organisieren. Es hilft auch, alles etwas lockerer zu nehmen und zu schauen, dass man mit seinem Umfeld anständig und freundlich ist. Vielleicht hilft das auch anderen Betroffenen… 

Mit freundlicher Genehmigung zum Abdruck.
Das Original von Danica Gröhlich, erschien am 27. Mai 2020 bei «gesundheitheute».