Mit Mut zum Erfolg – rekordverdächtig

Höher, weiter, schneller: Sport lotet die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit aus. Margrit Heusler zeigt eine neue Dimension. Wie die Frau im Rollstuhl ihre MS in Seeüberquerungen, Marathons und Stadtläufen herausfordert.

Als ich Margrit in ihrer 2.5-Zimmer-Wohnung in Sursee besuche, balanciert sie mit einer Hand die Kaffeetassen zum Tisch, mit der anderen schiebt sie den Rollstuhl an, rückt alles schön zurecht und hat dabei ein derartiges Tempo drauf, dass sie gleich zu Beginn relativiert: «Nein, da funktioniert sehr vieles nicht mehr.» Die Beine hat ihr die MS «komplett geraubt». Stück für Stück und unerbittlich. Insgesamt dreimal hat sie die Fahrprüfung gemacht: Mit zwei funktionierenden Beinen, mit einem Bein und schliesslich mit komplett gelähmten Beinen. Ist Margrit mit dem ÖV unterwegs und braucht ein Billett, ist sie trotz ihrer Wendigkeit im Rollstuhl auf Unterstützung angewiesen. «Ich muss jemanden anhauen, der mir das Billett auf dem Touchscreen löst. Das Handy hilft leider auch nicht, in den Fingern spüre ich oft nichts mehr.»

Viel Bewegung, weniger Schmerzen

Ein ganz normaler Tag im Leben von Margrit Heusler startet mit einem kleinen Marathon nach dem Frühstück. Mit dem Sport-Rollstuhl fährt sie die Strasse hinunter, über die Brücke und weiter zum See. Insgesamt elf Kilometer weit. «Da pfeile sie einfach ab», erzählt sie schwärmend. Danach schwimmt sie zweieinhalb bis drei Kilometer, je nach Witterung draussen oder im Hallenbad. Wenn sie sich dabei jeweils auf den Rücken ins Wasser legt, fühlt sie sich schwerelos und rudert mit kräftigen Armzügen. Das magische Element Wasser schafft, was Medikamente nicht mehr vermögen: Margrit ist nach einer halben Stunde Schwimmen für einige Zeit von ihren extremen Nervenschmerzen befreit. Erst anschliessend, so gegen 14.00 Uhr, nimmt Margrit ein gesundes Mittagessen zu sich. Damit aber nicht genug. Zuhause steigt sie aufs Motomed (Elektrofahrrad)  und lässt ihre Beine zirkulieren, vorwärts, dann rückwärts. Am Schluss wäre sie hypothetisch irgendwo 15 Kilometer entfernt von ihrem Ausgangspunkt angekommen. «Wenn ich jeden Tag sechs Stunden trainiere, dann schaffe ich es, weiterhin meine Pfanne zu heben oder eine Flasche zu öffnen. Deswegen bin ich ja auch so angefressen.»

Aufgeben ist keine Option

Wäre es nicht auch einmal schön, einen Tag lang nur auf dem Sofa herumzulümmeln? «Ich habe gar keine andere Wahl. In Kürze rostet alles ein.» Margrit sagt es gelassen. Sie steht mit ihrer MS in einem dauernden Zweikampf. Wo die Krankheit sie angreift, baut sie einen Schild aus sehr viel Bewegung auf. Eine Art Sisyphusarbeit, könnte man sie bedauern, aber Margrit ist kein Mensch, der hadert. «Es könnte ganz anders sein: Stellen Sie sich vor, ich läge als Vollpflegefall im Bett, seit Jahren nicht mehr fähig, etwas zu tun…» Das Milleniumjahr war für Margrit ein Tiefpunkt. Die damals 54-Jährige muss nach dem zweiten heftigen MS-Schub in ein Pflegeheim. Das Nachttischlämpchen kann sie zu diesem Zeitpunkt nicht länger selbstständig anknipsen. Sie ist vom vierten Brustwirbel an abwärts gelähmt. «Ich will raus, auf eigenen Füssen stehen », schiesst es ihr durch den Kopf. Ihre beiden Kinder sind da bereits erwachsen. Sie ist von ihrem Mann geschieden. Das Schicksal hatte schon vorher zugeschlagen. Ein schwerer Velo-Unfall hatte zu jahrelangen Schmerzen geführt. Oben drauf war die MS-Diagnose gestellt worden und noch mehr dunkle Wolken türmten sich auf. Das verabreichte Kortison, Morphium und Betaferon schwemmen die schlanke Frau auf. 40 zusätzliche Kilos legen sich um sie, fast immobil liegt sie im Bett. Nach dem Halm greifen, der noch da ist. Bei Margrit war es die Fähigkeit, die Arme noch ganz leicht zu bewegen. Sie legte selbstständig los, hängte sich Gewichte an den rechten und den linken Arm und übte, übte, übte. Babyschritte, die Gewichte wurden immer schwerer, bis sie eines Tages genug Kraft hatte, selbstständig mit dem Rollstuhl aus dem Pflegeheim zu fahren und neuerlich für sich selbst zu sorgen. Mit Unterstützung der Schweiz. MS-Gesellschaft erhält die frühere Servicemitarbeiterin eine volle Invaliditätsrente und zweimal wöchentlich Besuch von der Spitex. Sonst managt sie alles selber.

Die grosse Sportfamilie gibt Halt

Die Krönung ihrer Leistung sind zahlreiche Medaillen und Auszeichnungen. Seit 2005 hat sie mehrere Marathons geschafft und ist über viele Seen geschwommen. Den Zürichsee traversierte sie an einer seiner breitesten Stelle auf dem Rücken schwimmend mit der Kraft ihrer Arme. Für die zweieinhalb Kilometer brauchte sie 55 Minuten und lag damit im Mittelfeld aller Teilnehmenden. Viele Sportskollegen sind zu Freunden geworden. «Wenn man gemeinsam unterwegs ist, erlebt man etwas. Beim Sportmachen vergesse ich die MS komplett.»  Margrits offene Art kommt an. Sie ist gerne unter Menschen, nimmt an zwei Gruppenaufenthalten der MS-Gesellschaft teil und ist Mitglied in der Regionalgruppe Luzern. Sie schätzt diese Angebote und die tollen Austauschmöglichkeiten. Ginge es nach Margrit, gäbe es Zusammenkünfte von MS-Betroffenen über die Landesgrenze hinaus. Als Bauerntochter mit Deutschschweizer Eltern im Jura aufgewachsen, ist sie bilingue. Weitere Eckdaten hingegen lassen zweifeln. Jahrgang 1946 steht im Pass. Bei dieser geballten Energie und der auffallend glatten Haut? Selbst ein behandelnder Arzt hatte den Kopf geschüttelt: «Unmöglich.» Sie lacht, zwanzig Jahre würde sie selbst abziehen.  Margrit findet erfolgreich immer neue Wege, trotz ihren Einschränkungen dabeizubleiben. Sie ist mental stark, überwindet aufgesetzte Grenzen und ist kreativ. «Ich kann keine Befehle mehr an meine Beine geben. Dann drehe ich sie mit den Händen halt einfach dorthin, wo ich sie haben will.» Im Reisecar gibt sie ihren Rollstuhl zur Aufbewahrung ab und hievt sich mit der blossen Kraft ihrer Arme die Treppe an der hinteren Bustür hoch.

Für andere da sein

«Kürzlich, auf meinem Trainingslauf im Rollstuhl, hat mir ein Mann zugerufen: Hast du noch genug  Benzin im Motor? Was musste ich da während des ganzen Trainings lachen! Jaja, das reicht noch lange aus, bestimmt!» Sie klopft sich auf die Arme. Margrit ist sich bewusst, dass nicht alle vom Naturell her so positiv sein können wie sie. Sie sei einfach so gemacht. «Darf ich dich anrufen, wenn es mir schlechtgeht?», würde sie gefragt. «Auf jeden Fall!». Sie sagt es mit Nachdruck. «Meldet euch bei mir. Ich mache Mut!»

Text: Esther Grosjean