Komplementärmedizin wird immer wichtiger

Fachartikel

Einer der Workshops am «MS State of the Art Symposium» beschäftigte sich mit dem Thema Komplementärmedizin. Die beiden Rednerinnen, Prof. Dr. Claudia Witt, Universitätsspital Zürich, und Prof. Dr. Ursula Wolf, Universität Bern, sprachen über die zunehmende Bedeutung der Komplementärmedizin und stellten einige Möglichkeiten vor, deren Einsatz bei MS-Betroffenen sinnvoll sein kann.

Prof. Witt zeigte anhand von Zahlen aus der wissenschaftlichen Literatur auf, dass bis zu 80% der MS-Betroffenen komplementärmedizinische Angebote nutzen. Meist wird dabei mehr als eine dieser Therapieformen genutzt. Eine Arbeit aus den USA ergab, dass es zwischen 2001 und 2018 zu einer deutlichen Zunahme der Nutzung solcher Angebote gekommen ist. Ebenfalls war die Wahrscheinlichkeit, dass MS-Betroffene ihre Ärztin oder ihren Arzt auf komplementärmedizinische Behandlungsmöglichkeiten ansprachen, 2018 neunmal höher als 2001.

Einbezug der Wünsche und Werte der Betroffenen

Unter den verschiedenen Angeboten werden insbesondere Nahrungsergänzungsmittel (Vitamine, Mineralstoffe, Kräuter), körperliches Training, spezielle Diäten und Mind Body Therapien (Achtsamkeitsmethoden, Yoga, Tai Chi, Qigong, Entspannungs- und Meditationstechniken) genutzt. Komplementärmedizinische Angebote erlauben es, neben den aus wissenschaftlichen Untersuchungen vorliegenden Resultaten und der Expertise der Behandler auch Werte, Wünsche und Erfahrungen der Betroffenen zu berücksichtigen. «Das trägt auch zur Gesamtwirkung der Behandlung bei», betonte die Rednerin. Zur Individualisierung brauche es aber insbesondere ein empathisches Gespräch, um die Erfahrungen und Wünsche der MS-Betroffenen wirklich erfassen und ein passendes Angebot vorschlagen zu können.

Wissenschaft bestätigt positive Effekte

Prof. Witt stellt die Mind Body Medicine vor: «Diese Methode versucht, Körper und Psyche zu verbinden. Ziel ist es, die Ressourcen und Selbstwirksamkeit der MS-Betroffenen zu stärken und Symptome zu lindern», sagte sie. In der Mind Body Medicine werden verschiedene Verfahren genutzt, darunter auch Achtsamkeitsbasierte (Mindfulness-) Methoden. Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass das Üben von Achtsamkeit bei MS-Betroffenen Verbesserungen bei Fatigue (anhaltende Müdigkeit und Erschöpfung) bewirken kann. Es gibt Hinweise, dass auch Yoga, Entspannungstechniken und Akupunktur bei Menschen mit MS zu positiven Effekten führen können. «Aktuell laufen weitere Studien, so dass man in Zukunft hoffentlich noch besser weiss, welche Methoden sich in welcher Situation am besten eignen», so Prof. Witt.

Förderung der selbstheilenden und –regulierenden Kräfte

Am Institut für Komplementäre und Integrative Medizin in Bern bietet Prof. Ursula Wolf zusammen mit ihren Mitarbeitenden individuell zugeschnittene komplementärmedizinische Massnahmen im Sinne der Integrativen Medizin an. Integrative Medizin bedeutet die sinnvolle und synergistische Kombination von sogenannt konventioneller und komplementärer Medizin. «Die komplementäre und integrative Medizin kann nicht nur bei MS-bedingten Beschwerden wie Muskelkrämpfen, Schlafstörungen, Gedächtnisproblemen und Schmerzen erfolgreich eingesetzt werden, sondern sie kann auch zur Linderung von Nebenwirkungen der konventionellen Therapien beitragen», erläuterte sie.

Anschliessend erklärte Prof. Wolf die Prinzipien der von Rudolf Steiner und Ita Wegman vor etwa 100 Jahren begründeten anthroposophischen Medizin. Sie berücksichtigt neben dem Körper auch Seele und Geist. «Ziel der anthroposophischen Medizin ist, die selbstheilenden und selbstregulierenden Kräfte zu stimulieren», so Prof. Wolf. Sie nutzt dazu einerseits Medikamente mit Ausgangssubstanzen aus Mineralien, Metallen, Pflanzen (z.B. Dyskrasit bei Spastik oder Bryophyllum bei Angst, Nervosität), die eingenommen oder äusserlich angewendet werden können (z.B. als Wickel oder Einreibungen). Andererseits kommen auch nicht-medikamentöse Therapien wie Kunsttherapie (Malen, Plastizieren) oder die achtsame Bewegungstherapie (Heileurythmie) zum Einsatz.

Kraft der Heilpflanzen nutzen

Der letzte Teil des Vortrags von Prof. Wolf drehte sich um die westliche Pflanzenheilkunde (Phytotherapie). Sie nutzt pflanzliche Bestandteile wie Wurzeln, Blätter, Blüten, Früchte oder Samen. Da Pflanzen eine Vielzahl an Substanzen enthalten, setzt sich auch ein daraus hergestelltes Medikament, ein Phytotherapeutikum, immer aus mehreren Substanzen zusammen. Die Wirkung beruht dann auf einem Zusammenspiel der verschiedenen Inhaltsstoffe. Bekannte Phytotherapeutika sind z.B. Ginkgo biloba (bei nachlassender Gedächtnisleistung), Johanniskraut (bei depressiven Verstimmungen) oder auch Lavendel (bei Schlafstörungen, Angst). Prof. Wolf betonte, dass pflanzliche Arzneimittel die Wirkungen und Nebenwirkungen konventioneller Arzneimittel beeinflussen können und dass ihr Einsatz daher durch entsprechend geschulte Fachpersonen überwacht werden sollte.

«MS State of the Art Symposium»

Das «MS State of the Art Symposium» ist der bedeutendste Fachkongress zu Multipler Sklerose in der Schweiz und wird von der Schweiz. MS-Gesellschaft und ihrem Medizinisch-wissenschaftlichen Beirat organisiert. Dieses Jahr fand das Symposium am 29. Januar 2022 in virtueller Form statt.

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