«Eine Behinderung bedeutet nicht automatisch eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit»

Markus Schefer ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel und ein ausgewiesener Experte für Menschenrechte. Im Juni wurde er als erster Schweizer in den UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen gewählt.

Aus welchem Grund interessieren Sie sich für Menschenrechte und insbesondere für die Rechte von Menschen mit Behinderung?
Mich faszinieren die Menschenrechte, weil man sich mit unmittelbaren zentralen Fragen der menschlichen Existenz auseinandersetzt. In der Schweiz leben 1.8 Millionen Menschen mit Einschränkungen, 500‘000 sind schwer behindert. Mit der Behindertenrechtskonvention gibt es ein Instrument, mit dem ihre Situation verbessert werden kann. Doch wir stehen noch am Anfang und es ist dringend nötig, sich in diesem Bereich einzusetzen. Als Rechtswissenschaftler kann man viel zur Entwicklung beitragen.

Haben Sie persönliche  Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung gemacht?
Viele, die sich rechtlich oder politisch für Menschen mit Handicap einsetzen, haben einen persönlichen Bezug dazu. Doch ich finde, das ist keine Voraussetzung, denn die Verwirklichung der Menschenrechte ist keine Klientelpolitik. Wenn sich nur die engagieren, die auch persönlich betroffen sind, ist das für mich ein Zeichen dafür, dass wir gesellschaftlich noch nicht da sind, wo wir sein sollten. Es geht alle Menschen an, wie wir mit Menschen mit Behinderung umgehen.

Wie beurteilen Sie die Situation der Menschen mit Behinderungen in der Schweiz, im Vergleich mit anderen Ländern?

Es gibt Länder, die schon viel mehr getan haben als die Schweiz, zum Beispiel Neuseeland, Australien, die USA oder in skandinavische Staaten. Aber es ist schwierig, Nationen pauschal miteinander zu vergleichen. In gewissen Bereichen kann die Schweiz durchaus mithalten, zum Beispiel beim Bahnverkehr in Bezug auf Gehbehinderungen.

Ein wichtiger Aspekt der Inklusion ist Arbeit. Unternehmen Arbeitgeber genug, um Personen mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit zu integrieren?
Erst einmal bedeutet eine Behinderung nicht automatisch eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit. Aber ja, es ist heute bedauerlicherweise so, dass für private Arbeitgeber keine rechtlichen Verpflichtungen bestehen, sondern nur für den Bund als Arbeitgeber. Die Idee dahinter war, dass der Bund mit gutem Beispiel voran geht und die Privaten dann folgen. Doch der Bund verhielt sich nicht vorbildhaft, und entsprechend haben sich die privaten Arbeitgeber nicht genügend bewegt. Und dies, obwohl gewisse Anpassungen von den Sozialversicherungen finanziert würden.

Sehen Sie andere Bereiche, die in Ihren Augen Verbesserungspotenzial haben?
Für private Firmen oder Einzelpersonen bestehen keine Verpflichtungen, Dienstleistungen allen zugänglich machen zu müssen, etwa eine Website barrierefrei zu gestalten. Diese privaten Dienstleister sollten wir in die Pflicht nehmen. Grundsätzlich ist die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz ein unbefriedigend langsamer Prozess. Ich gehe davon aus, dass der Behindertenrechtsausschuss der UNO ein paar kritische Bemerkungen zum Bericht der Schweiz machen wird.

Unsichtbare Symptome wie Fatigue kommen bei MS häufig vor. Gibt es für diese schwer fassbaren Einschränkungen eine juristische Definition?
Im Sozialversicherungsrecht muss eine Einschränkung immer medizinisch begründet werden. Das Behindertengleichstellungsrecht hingegen knüpft an gesellschaftliche Phänomene an, nicht an medizinische Befunde. Das ist ein grosser Unterschied und eigentlich auch ein revolutionärer Gedanke. Denn man fragt sich nicht mehr, wie man den Menschen verändern oder vielleicht gesund machen kann. Sondern man versucht, das gesellschaftliche Umfeld so zu gestalten, dass alle gleichberechtigt und möglichst selbstbestimmt darin leben können. Eine Behinderung existiert stets nur im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Rahmen.

Sind Personen mit Handicap ausreichend in Kunst und öffentlichen Medien repräsentiert?
Eine gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben setzt auch einen kommunikativen Austausch voraus. Deshalb sollten in den Medien alle vertreten sein und sich äussern können. Auch Kunst darf kein behindertenfreier Raum sein.

Was möchten Sie als Mitglied des Uno-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen erreichen?
Ich möchte mithelfen, dass vertraglich vereinbartes Recht umgesetzt wird – sowohl in der Schweiz als auch in den 176 anderen Ländern und der EU. Die Verpflichtungen aus der Behindertenrechtskonvention müssen ernst genommen werden. Ausserdem ist es mir ein Anliegen, dass die 10 verschiedenen Menschenrechts-Ausschüsse der UNO ihre Anliegen und ihre Arbeit besser koordinieren. Viele Themen betreffen nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern beispielsweise auch den Ausschuss für Kinder- oder jenen für Frauenrechte. Je mehr wir mit einer Stimme sprechen, desto höher ist die Chance, dass wir ernst genommen werden.

Denken Sie, dass Ihre Wahl die Situation in der Schweiz verbessern wird?
Mit der Unterstützung meiner Kandidatur hat die Schweiz ein klares Signal gesendet, dass sie es ernst meint mit der Behindertenrechtskonvention. Ich erhoffe mir schon, dass das Thema auch in der Schweiz sichtbarer wird. Vielleicht kommt das Signal auch bei den Behindertenverbänden an, dass man zusammenspannen und gemeinsam daran arbeiten muss, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Aber auf die Beurteilung des Berichtes aus der Schweiz habe ich keinen Einfluss, bei jener Beratung trete ich in den Ausstand.