Aber jemand zur Last fallen? Mich muss auch keiner im Rollstuhl herumschieben. Dann kauf ich mir einen Strick, schaue, dass ein schöner Baum da ist und ein Tag, an dem es nicht zu kalt ist und nicht regnet. Oder wenn ich blind bin, nichts mehr sehen kann – weil ich bin ein sehr visueller Mensch – nein, Danke.
Ich habe mich bei einer Sterbehilfeorganisation registriert. Das ist für mich die Sicherheit, wenn ich es selbst nicht mehr hinbekomme und es mir beschissen geht, dass mir da einer hilft.
Jedem Menschen sollte frei überlassen sein, wenn er gehen möchte. Aber er sollte so gehen, dass er niemandem zur Last fällt. Ich finde es nicht nett für den unten, wenn ich von einem Hochhaus springe und einer muss mich zusammen fegen. Oder wenn der Lokführer vom IC die Scheibenwischer anmachen muss, weil plötzlich alles Rot ist. Die können beide nichts dafür und ich will andere nicht damit belasten.
Ich habe meinem Neurologen erzählt, dass ich die Situation nicht mehr kontrollieren kann, dass sie meine Kräfte übersteigt... dass ich aber einen Exit-Plan habe, dass ich genau weiss, wann was machen… und der hat gesagt: «Dann ist es höchste Zeit, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.»
Ich habe drauf gehört und es hat was gebracht, es hat mir sehr Gutes gebracht, am Ende eines langen Prozesses… Aber man muss bereit sein, was sich und seine MS angeht, alle Karten schonungslos aufzudecken. Mögliche posttraumatische Störungen, alles. Und an der Verarbeitung arbeiten. Trennen, was von der MS ist und was nicht. Sonst kann man es auch bleiben lassen…
Wer heute die Diagnose MS bekommt, sollte idealerweise sofort psychologisch aufgefangen werden. Weil die Krankheit erst einmal nicht greifbar ist. Es ist, wie mit Tempo 250 durch eine Nebelwand zu brettern. Und zu hoffen, dass kein Baum kommt. Und kein Stau. Und die Strasse gerade bleibt…
Oliver R. Lattmann